Zwischen Himmel und Hölle
15.09.2016 -All diese Jahre wurde uns versprochen, haben wir uns selbst versprochen, dass wir alle Möglichkeiten haben, dass uns die ganze Welt offen steht. Dass wir all diese Chancen haben, dass wir sie nutzen müssen. Auslandsaufenthalt hier, Praktikum dort. Bloß nichts liegenlassen. Wir können, sollten, nein, müssen, uns selbst verwirklichen.
Wie 30 Seconds To Mars mir unsere Generation erklären.
We were the kings and queens of promise
Auf unser Herz hören, unsere persönliche Berufung finden, und dieser dann folgen – kompromisslos, bedingungslos. Wir wollen keine Opfer sein einer höheren Macht, wollen selber das Sagen haben, selber bestimmen, welchen Weg wir einschlagen. Wollen bewusst leben, nachhaltig denken, die Welt retten – schließlich wurde uns immer weisgemacht, dass wir das Zeug dazu haben. Wir versprechen uns, niemals aufzugeben, bevor wir nicht da sind, wo wir sein wollen, bevor nicht alles irgendwie in Ordnung ist.
Weil wir nämlich, im Gegensatz zu vielen Generationen vor uns, friedlich in Einigkeit und Recht und Freiheit aufwachsen konnten und leben dürfen.
We were the victims of ourselves
Und so wurden wir Opfer unserer selbst. Hinterfragen alles: unsere Herkunft, unsere Studien- und später Berufswahl, unser Umfeld, uns selbst. Schöpfen wir unser Potential voll aus? Machen wir auch wirklich das, was uns vollkommen erfüllt? Gehen wir den einen für uns richtigen Weg? Sind wir auch bloß kein blinder Anhänger einer kaputten Gesellschaft? Wir holen unsere Anker rein, verlassen die vertraute Heimat, gehen ins abenteuerliche Ausland, ziehen in eine neue Stadt, und wieder in die nächste. Setzen die Segel ständig neu. Schließen neue Freundschaften, verabschieden uns wieder, gehen weiter, vermissen. Haltlos und frei, so frei. Düngen unsere Flügel, stutzen unsere Wurzeln. Stehen ständig unter Druck, von außen und von innen. Bloß nicht ankommen, Erfahrung um Erfahrung um Erfahrung suchen. Sonst ist man ja nichts heutzutage, sonst sticht man nicht genügend hervor aus dieser Masse an Lebenskünstlern, die in ihrem Drang nach Individualismus so wunderbar konform ist.
Aber da draußen ist nicht heile Welt. Da draußen ist Krieg. Und in uns ebenso – mit der Gesellschaft, mit uns selbst.
…between heaven and hell.
Denn diese tausend Möglichkeiten, die sind Fluch und Segen zugleich. Manchmal fühlen wir uns durch sie gar nicht frei, sondern eingeengt. Was haben wir von diesem tollen neuen Job, wenn Freunde und Familie 500 Kilometer entfernt leben? Ja, wir wollen uns selber verwirklichen, wollen nützlich sein – aber vielleicht nicht um jeden Preis. Denn verdammt, eigentlich wollen wir auch einfach nur glücklich sein. Neben diesen endlosen Chancen und den unzählbaren offenen Türen, suchen wir Bodenständigkeit. Denn wir wollen ankommen: bei uns, mit uns, für uns. Glück findet sich eben nicht zwischen den Zeilen einer perfekten und lückenlosen Lebenslaufs, sondern mitunter hinter den Scheidewegen, die uns verzweifeln lassen, oder unter den Steinen, die auf unserem Weg liegen.
Und so sind wir noch immer Harry Potter-verrückt, spielen wieder Pokémon, kaufen neues Altes auf Flohmärkten, fliehen nostalgisch in eine romantisierte Welt von früher mit Rock’n’Roll Helden und Plattenspielern. Weil diese uns offenstehende moderne Welt uns in ihrer Komplexität manchmal einfach zu viel wird. Weil wir noch nicht so ganz wissen, wie wir mit ihr umgehen sollen. Weil wir nicht immer nur weiter, weiter, weiter wollen, sondern manchmal auch einfach da sein, wo wir gerade sind. Und da bleiben, wenn auch nur für einen kleinen, bedeutenden, Moment.
Wir wissen, was für ein unglaublich wertvolles Privileg es ist, dass wir uns austoben können auf allen Spielwiesen dieses Planeten. Aber genauso wertvoll ist es zu wissen, wo man hingehört. Oder zumindest, wo man hinwill. Mal nicht nach höher weiter schneller besser zu streben. Sondern einfach kurz stehenzubleiben, um durchzuatmen.
Um uns so vielleicht wieder ein Stück näher zu kommen, indem wir wieder einen Sinn für das Wesentliche entwickeln, keinen überhöhten Idealen mehr hinterherjagen. Uns daran erinnern, wer wir eigentlich sind und werden wollen. Hinterfragen, was wir für uns persönlich wirklich wollen – und nicht, was von außen vielleicht von uns erwartet wird. Und wenn wir dann ein super Angebot am anderen Ende des Landes ablehnen, um näher bei Familie und Freunden zu sein, dann ist das halt so.
Ja, wir haben diese Abermillionen Chancen und Möglichkeiten, aber wir müssen nicht jede von ihnen wirklich nutzen. Manchmal ist es in diesem unübersichtlichen Dschungel unserer heutigen Zeit vielleicht einfach ein Stück Genügsamkeit, das wir vermissen. Nicht jedes Sprungbrett in neues Gewässer ist auch ein Sprungbrett ins Glück. Es ist völlig okay, auch mal am Beckenrand stehen zu bleiben, das Treiben aus dem Trockenen heraus zu betrachten und sich in Ruhe zu überlegen, von welchem Brett und aus welcher Höhe wir springen wollen. Nicht immer muss es der Körper mit Anlauf sein, manche von uns sind vielleicht eher Typ Füße-zuerst-und-Nase-zuhalten.
Es ist gut und überaus wichtig, Ziele und Pläne, Visionen und Ideale zu haben. Nehmen sie aber überhand, vergleichen wir uns zu sehr mit unseren Mitstreitern, tun wir Dinge nur, weil wir es können und sie sich schließlich gut im Lebenslauf machen - können sie schnell zu einer Last werden, die uns eher blockiert als anspornt. Dann ist vielleicht ein guter Zeitpunkt, innezuhalten, den Rucksack auszuschütten und nur die Steine wieder einzupacken, die wir auf unserer Reise wirklich dabeihaben wollen.