Eine Frage des MILIEUs

"Wird Astronautennahrung unser Essen ersetzen?"

01.07.2016 - Prof. Guido Ritter

Die industrielle Produktentwicklung von Lebensmitteln hatte von Anfang an das Ziel „bequeme Lebensmittel“ oder anders gesagt „Convenience Food“ in hoher Stückzahl zu schaffen. Die Zeitersparnis in der Zubereitung und dann später auch beim Essen selbst („Fast Food“, to-go“) wurde als Wert an sich gesehen.

Während wir früher täglich Stunden für die Ernte, den Einkauf, die Zubereitung und dann für das gemeinsame Essen aufwendeten, reduzieren „Fertigprodukte“ heute diesen Zeitaufwand erheblich. Ergebnis: Der Mensch kann diese Zeit anders nutzen und steht dem Produktionsprozess von Konsumgütern länger zur Verfügung und hat nun auch die „Freizeit“ diese zu kaufen und zu verbrauchen. 

 

Dabei befriedigten die Fertigprodukte von Beginn an in erster Linie das Bedürfnis nach Energie mit akzeptablem, sensorischen Eindruck. Die angeborenen und positiv mit dem Belohnungssystem verbundenen Grundgeschmacksarten süß, salzig, umami, d.h. fleischig und herzhaft (und auch fett) werden durch die Produktentwickler mit einer ausgetüftelten Marktforschung in den Fertigprodukten bestens kombiniert. Die fertigen Lebensmittel sind in ihrer geschmacklichen Komposition die Versuchung pur! Dabei werden die aufgrund der eingesparten Zeit nicht entstandenen Aromen mittels geschickter Dosierung aus der Retorte ersetzt.

 

Dennoch bleibt ein gewisser fader Nachgeschmack nach dem Essen ... So richtig will es uns nicht mehr munden. Die Diskussion über Massentierhaltung, über nicht vorhandene Fairness in der Lieferkette bis hin zu den skandalös niedrigen Preisen spiegelt den Werteverfall der „Mittel zum Leben“ wider. Eine Trendwende Richtung „Nachhaltigkeit“ ist bei der jungen Generation zu spüren. Viele sind nicht nur satt, sie haben es auch satt. Aber nicht alle. Und vielleicht auch noch nicht die Mehrheit.

 

Es ist nicht verwunderlich, dass gerade in Amerika der „Convenience“ Gedanke in Produkten, Dienstleistungen und Lebensmitteln auf die Spitze getrieben wird. Der Grundgedanke der Gesellschaft ist stark auf die individualisierte Selbstoptimierung ausgerichtet.

 

Bequemlichkeit in Konsumgütern, Mobilität und auch in der Ernährung, wächst sich zu einem gesellschaftlichen Grundübel aus. Mit allen Nachteilen. Nirgendwo sonst auf der Welt ist der Markt für Nahrungsergänzung so groß und damit Teil der täglichen Ernährung, wie in Amerika. Das Land mit den teuersten Haushaltsküchen, wo am wenigsten gekocht wird. Das Land, wo der Fernseher während des ganzen Tages überall läuft, auch während des Essens, das nur noch selten gemeinsam stattfindet.

 

Dort wurde 2013 als revolutionäres Produkt das „vollwertige“ Getränkepulver „Soylent 1.0“ durch „crowdfunding“ gesammeltes Geld von dem Softwarespezialisten Rob Rhinehart entwickelt. Mittlerweile ist aus der Produktidee ein größeres Unternehmen geworden und die Produktentwicklung mit einer trinkfertigen (vorgekauten und vorverdauten) Version bei „Soylent 2.0“ angekommen. Und wie die „Fast Food Welle“ und die „to-go Welle“ schwappt nun auch die „Soylent Welle“ zu uns nach Europa über.

 

Dass Menschen – Kinder, Kranke und Alte, die nicht kauen und schlucken können, aus medizinischen Gründen auf flüssige Pulvernahrung angewiesen sind und dankbar diese hochverarbeiteten (hochveredelte) Produkte der Nahrungsproduzenten zu sich nehmen können, ist ein Segen. Aber die Menschen tun das nicht freiwillig.

 

Mit Genuss hat diese Art der Nahrungsaufnahme nichts zu tun. Pulvernahrung ist der Inbegriff der Genussfeindlichkeit und macht uns auf Dauer genussunfähig.

 

Breiige Konsistenz kann Sicherheit und Wohlbefinden auslösen. Eine wunderbare Erinnerung an unsere Kleinkindzeit, wo wir mit Vorliebe glatte und einheitlich pastöse Lebensmittel gegessen haben. Wo uns unsere Neophobie vor unliebsamen Überraschungen geschützt hat. Wo wir uns durch das unselbstständige Gefüttert-werden geborgen gefühlt haben. Auf Dauer hat dies aber nichts mit einer verantwortungsvollen, bewussten Ernährung zu tun. Genuss braucht nämlich Grenzerfahrungen und Grenzen – Verantwortung und Mut.

 

Ein Ernährungspulver, das von seinem Entwickler Rob Rhinehart 2013 aus meiner Sicht zynischer Weise auch noch „Soylent 1.0“ genannt wird, beschwört das faschistoide Zukunftsszenario einer „Soylent Green“ Gesellschaft geradezu herauf.

 

Das einzig vollwertige Lebensmittel, von dem wir uns auch einige Jahre einseitig ohne Mangelerscheinungen ernähren können, ist die Muttermilch. Sobald wir uns davon entwöhnen, müssen wir uns vielfältig ernähren, um einer Unterversorgung vorzubeugen. Dabei sind die Bedürfnisse jedes einzelnen unterschiedlich. Den wissenschaftlichen Ernährungsgesellschaften fällt es schwer, Empfehlungen für eine ganze Bevölkerungsgruppe oder die ganze Menschheit zu geben. Ein Pulver, das alle Nährstoffe in der richtigen Komposition für alle Menschen der Welt enthält als vollwertiges Lebensmittel zu entwickeln, ist aus meiner Sicht nicht möglich und absurd.

 

Dennoch wird es getan, da der individualisierte Selbstoptimierungsdrang gekoppelt mit der genussfeindlichen Einstellung einer Reihe von Menschen ein solches Produkt bequem und gesund erscheinen lässt.

 

Aber Hoffnung besteht noch, wenn wir uns die Entwicklung der tatsächlichen Astronautennahrung über die Jahrzehnte ansehen. Angefangen mit einer reinen Tubennahrung wird heute auf der internationalen Raumstation ISS Wert auf eine ausgewogene Ernährung gelegt. Auch wenn aus Sicherheitsgründen die Lebensmittel gefriergetrocknet werden, so wird heute, wenn irgend möglich auf die individuellen Wünsche der Astronauten eingegangen und jeder darf einen Korb seiner Lieblingsspeisen mit an Bord nehmen.

 

Ernährung ist mehr als nur Nährstoffzufuhr. Es kann Wohlbefinden in Körper und Seele auslösen. Die Nahrung prägt uns und begleitet uns jeden Tag unseres Lebens. Die Herstellung von Lebensmitteln, das Kochen von Gericht und das gemeinsame Speisen nehmen Zeit in Anspruch. Diese Vorgänge machen aber unsere Esskultur aus. Eine Gesellschaft, wo diese Kultur nicht mehr stattfindet, verarmt und das Individuum wird auf Dauer in der Genussunfähigkeit verkümmern. 

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