Islamhass

Wir backen uns unsere Terroristen selbst

01.01.2016 - Tahir Chaudhry

Seit den Anschlägen von Paris ist nichts mehr so, wie es einmal war. Ganz offiziell führen europäische Staaten jetzt sogar einen „Krieg“ gegen den Terror des „Islamischen Staates“. Die Terroristen bekommen also ihren langersehnten Endzeitkampf und auch die von ihnen gewünschte Spaltung europäischer Gesellschaften kommt voran.

Denn all denjenigen, die in Zeiten der Flüchtlingskrise antimuslimische Ressentiments schüren wollten, wurde abermals eine Steilvorlage geboten. Jetzt machen sie rechtsextreme Ideologien salonfähig. „Wo sind denn die anständigen Muslime?!“ hört man es wieder klagen. Es spricht das wiedererwachte Unbehagen nach den jüngsten Anschlägen. Wieder ist eine ganze Religion in Verruf geraten. Es sind flüchtige Blicke auf Bilder in den Medien und die von ihnen ausgehende Macht, die jegliche Fortschritte bei der Integration von Muslimen in unseren Köpfen verdrängen.

Muslime ausgrenzen heißt Radikale schaffen

Lässt man die Entstehung des Terrorismus durch die Fehler westlicher Außenpolitik beiseite, beginnt der Teufelskreis in der Regel mit einem Anschlag, der im Namen des Islam verübt wird. Rechte Scharfmacher fühlen sich sofort bestätigt, dass der Islam eine gewalttätige Religion sei und machen Anti-Islam-Propaganda in europäischen Gesellschaften salonfähig. Daraufhin macht sich eine Bedrohungswahrnehmung und Islamfeindlichkeit breit. Muslime schweigen, denn der weitaus größte Teil der etwa vier Millionen in Deutschland lebenden Muslime erkennt in den mörderischen Akten ihre eigene Religion nicht wieder. Dennoch bleibt der Generalverdacht nicht aus.

Die verletzende Wirkung der Verdächtigung potenziert sich durch das immer wiederkehrende Gefühl, in westlichen Gesellschaften für immer als Fremdkörper zu gelten. Sie beginnen zu spüren, wie Ängste und Vorurteile die Menschen in ihrem Wirkungskreis beeinflussen. Es folgt der eilige Versuch, sich öffentlich zu distanzieren. Er scheitert jedoch, weil man ihnen vorwirft, zu beschwichtigen und das Gefährliche in ihrer Religion nicht zu sehen. Ohnmacht führt zu Frustration und dem Willen, sich nicht mehr für seine Religion rechtfertigen zu müssen. Besonders muslimische Jugendliche werden dadurch in ihren Identitätskrisen verstärkt und flüchten in eine „negative Identität“. Integration? Fehlanzeige!

Sofort hallt es: „Eure Kultur passt hier nicht her! Ihr seid nicht integrationsfähig!“. Den Extremisten gelingt es hiermit, den Graben zwischen dem Westen und der islamischen Welt zu vertiefen. Sie sind erfolgreich, da sie es fertigbringen, der Gesellschaft einzureden: „Hasst den Islam!“ Muslime sollen spüren, dass sie und ihre Religion auf keinen Fall akzeptiert werden. Radikal-islamistische Hassprediger gehen schließlich auf die Suche nach verletzten, verunsicherten und verrohten Menschen, geben ihnen eine Identität und verleihen neuen Lebenssinn. Sie stellen die alles entscheidende Frage: „Siehst du nicht, wie die Ungläubigen in aller Welt Krieg gegen die Muslime führen?“ Die Antwort scheint offensichtlich. Somit erhält ihre Sucht nach Macht, Reichtum und Anerkennung den religiösen Überbau. Es folgt ein weiterer Terrorakt.

Militante Islamisten sind nicht tief religiös

Theoretisch kann sich jedermann als Muslim bezeichnen, der es wünscht, als Muslim wahrgenommen zu werden. Um die Fälschung zu erkennen, bedarf es zumindest einer Auseinandersetzung mit dem theoretischen Islam. Der persönliche Kontakt zu Muslimen führt dann häufig zu der Erkenntnis, dass der Kampf gegen den Extremismus ein gemeinsamer ist. Allerdings wird in säkularisierten Gesellschaften angenommen, dass je religiöser ein Mensch ist, desto gefährlicher sei er für die Allgemeinheit.

Der britische Journalist und Medienhistoriker Mehdi Hasan hat unlängst herausgearbeitet, dass es den an Attentaten beteiligten Islamisten nicht nur an religiösem Wissen mangelte, sondern dass sie gar ein zutiefst unislamisches Leben führten. Entstanden ist eine Liste von Fallbeispielen, die diese These bestätigen. Nach neueren Erkenntnissen kann sich die Terrorgruppe von Paris gleich mit einreihen.

Unter ihnen auch Ibrahim Abdeslam (31), der sich außerhalb des Cafés Comptoir Voltaire in Paris in die Luft sprengte, war ein ausgebildeter Elektriker, dessen Leben laut seiner Ex-Frau aus Kiffen und Schlafen bestand. Trotz seines Diploms fand Abdeslam keinen Job. In den zwei Jahren, die sie zusammenlebten, habe er bloß einen einzigen Tag gearbeitet. Abdelhamid Abaaoud (28), der als Drahtzieher der Pariser Anschläge angesehen wird, habe seiner Schwester zufolge für kurze Zeit eine katholische Schule besucht, bevor er sie verließ oder suspendiert wurde und ein Leben der Kriminalität und des Drogenmissbrauchs begann.

Muslime sind Verbündete im Anti-Terror-Kampf

Das Vorurteil, dass militante Islamisten tief religiöse Menschen seien, hat besonders Abaaoud innerhalb von nur wenigen Stunden nach seinem Attentat noch einmal widerlegt. Gemäß Augenzeugenberichten, wurde der Attentäter dabei beobachtet, wie er außerhalb seiner Wohnung eine Flasche Whiskey trank, die er sogar seinem Nachbar anbot. Diese Erkenntnisse zeigen umso mehr, dass Extremismus kein religiöses gar ein muslimisches Problem ist. Laut des „Global Terrorism Index“ wurden 2014 weltweit 32.658 Menschen durch Terrorismus getötet. Darunter waren 31 Opfer aus Europa und 22 aus Nordamerika. Also nur jedes tausendste Opfer von Terrorismus auf der Welt war ein Europäer.

Es ist wohlbekannt, dass der Terror des „Islamischen Staates“ sich auch und besonders gegen alle Muslime richtet, die nicht seiner Ideologie folgen. 99,9 Prozent der Muslime in Deutschland lehnen den IS-Terror kategorisch ab. Zahlreiche Islamverbände, Politiker und Institutionen aus der Welt des Islam haben sich deutlich von den Gräueltaten des IS distanziert und mit den Opfern des Massakers solidarisiert. Zudem haben Studien des amerikanischen Pew Research Centers ergeben, dass die überwiegende Mehrheit der Gesellschaften der islamischen Welt die Taten des IS verurteilen. In den Augen des IS sind ebenjene Muslime „Abtrünnige“, aus der Sicht des Westens müssen sie zu Verbündeten werden.

Wenn nun eine verschwindend kleine Minderheit der 1,6 Milliarden Muslime dem Ruf einer Terrorbande folgt, dann liegt all ihre Macht in der PR-Strategie, die es zu durchbrechen gilt. Der IS verkauft sich gekonnt als eine kleine unaufhaltsame Armee von Auserwählten, die mit kontinuierlichem Erfolg Richtung Europa marschiert. Wichtig wäre also auch, ihre Angstmache in die Leere laufen zu lassen, da sie ein Teil eines propagandistischen Spiels der Selbstinszenierung ist. Die Ideologie des IS darf nicht weiterhin die Befreiungsideologie einer frustrierten Jugend einer Welt der Orientierungslosigkeit und einer an der Religionsferne leidenden Postmoderne sein.

In einer Videobotschaft, die während eines Schusswechsels aufgenommen wurde, wendete sich der Pariser Attentäter Abdelhamid Abaaoud an Muslime in aller Welt, als er sagte: „Seid ihr zufrieden mit eurem Leben? Dieses erniedrigende Leben ob in Europa, Afrika, arabischen Ländern oder Amerika? [...] Sucht nach Stolz und Ehre – im Jihad!“. Die Verachtung des Islam und Ausgrenzung der Muslime muss nicht etwa durch einen unkritischen, aber einem gerechten und freundschaftlichen Umgang ersetzt werden. Der Teufelskreis des Terrors kann gestoppt werden, indem die westliche Welt den Muslimen Schutz vor Terror in einem würdevollen Leben des Friedens und der Freiheit gewährt. Die Integration der bei uns kurzweilig Zuflucht Suchenden ist sicher nicht nötig, doch eine Botschaft können die Gäste von Deutschland in die arabische Welt tragen: Respekt, Toleranz und Nächstenliebe.

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