Wenn Kunst aufs Ganze geht
01.07.2022 -Gefahren und Möglichkeiten der ästhetischen Transformation – Wie hat unsere Geschichte unseren Umgang mit revolutionären, künstlerischen Impulsen geprägt? Eine Spurensuche bei Richard Wagner, der Kunst im Nationalsozialismus, bei Joseph Beuys und in unserer krisenhaften Gegenwart.
Was Joseph Beuys auszeichnet, könnte man vielleicht auf diesen Punkt bringen: Er wollte, dass die Kunst aufs Ganze geht. In seinem Erweiterten Kunstbegriff war sie nicht mehr nur eine Seitendisziplin kreativer Individuen und Kunstinteressenten, sondern zielte auf den Kern des gesellschaftlichen Wandels ab. Beuys wollte das schöpferische Prinzip der Kunst auf alle Bereiche des Lebens anwenden. Viele Jahre zuvor hatte Richard Wagner mit seiner Idee des Gesamtkunstwerkes und der Kunst als revolutionärer Kraft einen ebenso umfassenden Auftrag formuliert. »Die Kunst und die Revolution« heißt eine zentrale Schrift Wagners, »Die Kunst ist die einzige revolutionäre Kraft«, erklärte Beuys programmatisch. Dazwischen liegt die Katastrophe des Nationalsozialismus, der sich der Ideen und der Kunst Wagners bemächtigte, um das eigene Sendungsbewusstsein im Wandel zu einer totalitären Gesellschaft auch künstlerisch zu untermauern. In der Reflexion dieser Ideen einer universellen, sozialen Transformationskraft der Kunst möchte ich hier Licht und Schatten solcher Ganzheitsentwürfe beleuchten.
Die Kraft der Mythen
Vor vielen Jahren las ich ein Buch, das mich nachhaltig beeindruckte: »Engel sind schwarz und weiß« von Ulla Berkéwicz. Darin beschreibt sie die Geschichte zweier Freunde in der Zeit des Nationalsozialismus. Reinhold wird von seinem Freund Hanno, der später in eine Schulungsanstalt der SS geht, in die deutsche Dichtung eingeführt. Beide schöpfen aus dem Geist der Zeit, wonach ein epochaler Wandel bevorstehe. Auch durch die Vermittlung der hymnischen Dichtung der Romantiker und der Musik Richard Wagners wird Reinhold zunehmend in den ideologischen Kosmos der Nazis hineingezogen. Berkéwicz beschreibt all dies in höchst poetischen Worten und erreichte damit bei mir einen aufwühlenden Effekt: Als jemand, der die Dichtung liebt, konnte ich innerlich nachvollzeihen, wie sich Hanno und Reinhold für die Idee begeisterten, eine Rückverbindung mit den mythischen und mystischen Wurzeln des Menschseins stünde bevor, in einer Gesellschaftsvision, die den kühlen Rationalismus hinter sich lässt und einen übergeordneten Sinn der Menschwerdung in den Blick nimmt.
In Berkéwicz‘ Buch erlebt auch der junge Reinhold solch ein „Erwachen“ in Bayreuth und in einer fiktiven Passage findet sich eine Beschreibung dieser Wirkkraft der Wagnerschen Kunst, die diesen Zeitgeist eindrücklich widergibt: „Richard Wagner habe mit seiner Tonmacht die Weltwende eingespielt. Die Menschheit sei jahrtausendelang von ihrer mystischen Vergangenheit abgeschnitten gewesen und habe, in Raum und Zeit begrenzt und auf sich selbst zurückgeworfen, nach erdichteten Tröstungen gesucht. Das Zeitalter des Gottmenschen aber habe mit dem Wagnerschen Fanfarenklang begonnen.“
So zeigt Berkéwicz erschütternd, wie sehr die Faszination am Nationalsozialismus auch ästhetische Elemente hatte oder wie Kunst und Ästhetik genutzt wurden, um eine totalitäre Ideologie in die Herzen der Menschen einzupflanzen. Sie nutzten dazu die romantische Dichtung und vor allem auch die Musik Richard Wagners. Aber nicht nur dessen Opern gaben den Nazis ausreichend Möglichkeit, ihre zerstörerischen Anliegen mythisch zu verschleiern, sondern auch sein Denken bot viele Anknüpfungspunkte.
In seinen Schriften »Die Kunst und die Revolution« und »Das Kunstwerk der Zukunft« fordert Wagner in feuriger Sprache eine europaweite, soziale Revolution, die er schon heraufdämmern sah. Gegen die Versklavung der Menschen durch die wachsende Industrialisierung und die Entfremdung des Menschen von seiner eigenen Natur durch das Christentum wollte er ein ästhetisches Ideal der Griechen wiederauferstehen lassen und den Menschen zu einem Leben führen, das seinem innersten Wesen entspricht. Es müsste eine neue Religion geboren werden, die aus diesem Wesen schöpft und das Mittel dazu sei das Gesamtkunstwerk. Er wollte Kunst aus der Aufteilung in verschiedene Disziplinen in eine Ganzheit führen, die er in seinen Opern dann auch einzulösen versuchte.
Den Impuls zu dieser ästhetischen Erneuerung sah er im Volk, das er durch eine solche Kunst wieder zu seiner eigenen Würde führen wollte. Die gesellschaftlichen Zustände sah er verkümmert in einer Herrschaft der wirtschaftlichen, politischen, religiösen, intellektuellen Eliten über das zum dumpfen »Pöbel« degradierte Volk. Im revolutionären Erwachen des Volkes sah er den Weg zu einer neuen Gesellschaft. Zum Volk gehört der Mensch, »sobald er einen Drang in sich fühlt, endlich auszubrechen aus dem feigen Behagen unserer gesellschaftlichen und staatlichen Zustände oder der stumpfsinnigen Unterjochung durch sie, der ihm nur Ekel an den schalen Freuden unserer unmenschlichen Kultur und Hass gegen ein Nützlichkeitswesen empfinden lässt.«
Die Herrschaft des Nützlichen wollte er durch die revolutionäre Kraft der Kunst überwinden. Das Volk ist der Künstler, der die naturgegebenen schöpferisch-mythischen Kräfte freisetzt und eine neue Religion begründet. Eine Religion, die sich aus dem mythischen Quellraum des Volkes schöpft, den er in seiner großen Tondichtung »Der Ring der Nibelungen« aus der germanischen Mythenwelt wachzurufen suchte.
Missbrauchte Kunst
Mit seinen revolutionären Ideen von einem Umsturz der Verhältnisse, seinem Antisemitismus und seiner mit Mythen aufgeladenen Musik war Wagner für die Nationalsozialisten besonders interessant. Wirksam missbrauchten sie ihn für die Vermittlung ihrer Ideologie. Unter Historikern wird darüber diskutiert, ob Aspekte der späteren völkischen Ideologie schon in seinem Werk vorgebildet wurden. Thomas Mann konstatierte, dass viel Hitler in Wagner sei und nannte das Festspielhaus in Bayreuth »Hitlers Hoftheater«. Hier zelebrierte Hitler, unterstützt von der Wagnerfamilie, die ihm sehr zugetan war, die Opern Wagners bei den Bayreuther Festspielen als eine Art Initiationsritus in die nationalsozialistische Neu-Mythifizierung des Menschen und der Gesellschaft. Die Nazis wollten damit ein gemeinschaftliches Erlebnis der Ehrfurcht und Erhöhung des deutschen Volkes wachrufen.
Aber nicht nur die mythenschwangere Kunst Wagners wussten die Nazis zu nutzen, um ihre heldische Ästhetik zu formen, welche die Menschen emotional von der schicksalsschweren Erlösungsaufgabe des Dritten Reiches überzeugen sollte. Sie fanden auch andere wirksame, auch sozialkünstlerische Mittel. Bei ihren Massenveranstaltungen setzten die Nazis geschickt auch ästhetische Mittel ein, um ein Gefühl der Größe und Gemeinschaft wachzurufen. Besonders eindrucksvoll die Lichtdome, bei denen um ein Stadium riesige Scheinwerfer installiert wurden, die dann einen Dom aus Licht in den Nachthimmel bauten. Man kann sich vorstellen, dass solche sozialen ästhetischen Erfahrungen, in welchen die Menschen in ein gemeinschaftliches Mysterium gezogen werden sollten, einen tiefen Eindruck hinterließen.
Diese Massenveranstaltungen wie auch die Olympischen Spiele in Berlin 1936 wurden von der Filmemacherin Reni Riefenstahl in mythenschwangere Bilder gesetzt. Geschickt nutzen die Nazis hier die relativ neue Kunstform des Films, die in sich eine Art Gesamtkunstwerk aus Bild, Ton und Dramaturgie ist und besonders geeignet, durch Bilder tiefe Emotionen zu vermitteln. Und mit Riefenstahl fanden sie eine Meisterin dieser Kunst, noch heute gilt sie vielen als Genie und einige ihrer Filmpassagen als bahnbrechend in der Verwendung neuer künstlerischer Mittel. Besonders beeindruckend die Eröffnungsszene zum Olympiafilm, in dem sie aus den Ruinen des antiken Griechenlands die heroischen Athleten auferstehen lässt. So stellt sie die Berliner Olympiade und damit auch das Nazi-Regime in diesen mythischen Bezug.
In der Masse aufgehen
In Riefenstahls dokumentarischen Filmen gibt es außer den Nazi-Führern keine Individuen. Es gibt individuelle Körper vom heldisch-starken Menschen, der der Ästhetik und Ideologie der Nazis entsprach. Ganz besonders wusste sie die Massen in Szene zu setzen und ich konnte nicht umhin, selbst etwas Aufregung zu empfinden, wenn zu Beginn von »Triumph des Willens«, ihrem Film über den Reichsparteitag der NSDAP 1936, das Flugzeug Hitlers zunächst zu sphärischer Musik durch die Wolken schwebt, um dann langsam Nürnberg näherzukommen und bejubelt von der Menge zu landen. Diese Stilisierung einer vereinten Volksgemeinschaft, die an einer epochalen, menschheitsgeschichtlichen Wiedergeburt Deutschlands und des zukünftigen Menschen teilhat, wird hier mit Hitler als herabkommender Erlöser mythisch-emotional vermittelt. Es ist die Ehre und Würde des Einzelnen, an dieser so weit über ihn hinausgehenden Aufgabe mitzuwirken.
Im Vorspann von »Triumph des Willens« wird der Mythos angesprochen, den die Nazis um sich selbst spannen. Dort wird das Ende des Ersten Weltkriegs als der Beginn des Leidens des deutschen Volkes benannt und die Machtergreifung Hitlers als der Beginn der deutschen Wiedergeburt. Nach der empfundenen Kränkung der Niederlage und den Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg, der Wirtschaftskrise und den gewaltsamen politischen Unruhen zwischen verfeindeten Gruppen waren viele Deutsche empfänglich für die einigende Botschaft eines deutschen Volkes, das zu seiner wahren Bestimmung findet. Die wirksamen Mittel der Ästhetik und Kunst wurden genutzt, um diese Schicksalsaufgabe mythisch zu erhöhen. Gleichzeitig wurden negative Mythen wie die vom »Weltjudentum«, das alle anderen Völker unterjocht, genutzt, um Feindbilder zu schaffen und emotional aufzuladen.
Suche nach Sinn
Bei diesen Überlegungen wird mir erneut deutlich, warum heute rechtspopulistische Ideen oder Verschwörungsmythen wie bei QAnon, in denen Donald Trump der Bote einer friedlichen, freien und spirituellen Zukunft ist, eine solche Anziehungskraft haben. Zunächst einmal gehen diese Entwürfe aufs Ganze, sie bieten einen verbindenden Mythos. In einer Zeit, in der das gesamte Leben zunehmend einer neoliberalen Marktlogik unterordnet wird, die auch zu einer sozialen Fragmentierung führt. Und sie geben eine Antwort auf die Sinnkrise in einer Welt, die durch einen wissenschaftlichen Materialismus geprägt ist. Als jemand, der selbst im Osten Deutschlands aufgewachsen ist, wird damit auch klarer, warum die AfD hier besonders stark ist, denn viele Menschen empfinden sich als abgehängt von der gesellschaftlichen Entwicklung. So entsteht die Sehnsucht nach Sicherheit, Orientierung und einer engeren Zugehörigkeit zum deutschen Volk, die immer auch mit Mythen einhergeht, z. B. dem Mythos von der Islamisierung des Abendlandes. Und mich erschreckt es immer wieder, wenn Bekannte, die sich seit vielen Jahren für spirituelle Themen interessieren, für eine Mythifizierung der gesellschaftlichen Verhältnisse in einem Kampf zwischen guten und bösen Mächten offen sind. In der Komplexität der politischen Verwerfungen im Zuge einer Pandemie werden dann die Schuldigen gesucht und mythisch überhöht wie Bill Gates oder globale Eliten. Hier ist dann auch en Einfallstor für die Wiederbelebung von Mythen wie die vom alles beherrschenden »jüdischen Weltverschwörung«. So wachsen in der Lücke der Sinngebung und Visionskraft unserer Kultur rückwärtsgewandte und totalitäre Alternativen, in denen ein zerstörerisches soziales Potenzial liegt.
Joseph Beuys erkannte einen inneren Mangel auch in seiner Zeit und sein Werk ist seine Antwort darauf. Es ist eine Kunst, die aufs Ganze ging. Beuys wuchs in der Zeit des Nationalsozialismus auf, war als Bordfunker bei der Luftwaffe und verunglückte 1944 bei einem Absturz auf der Krim. Über diese Zeit hat Beuys nicht viel gesprochen aber in seinen Werken findet man viele Zeichen dieses Traumas des Krieges. Den Absturz kleidete er in den Mythos, dass er schwer verletzt von Tartaren gefunden wurde, die ihn, eingehüllt in Fett und Filz – Materialien, die für ihn später zentral wurden –, gesund pflegten.
In seiner Beuys-Biografie hat Hans-Peter Riegel versucht, Beuys eine Nähe zu nationalsozialistischen Ideen nachzuweisen, aber das scheint spekulativ. Aber auf der anderen Seite ist es auch offensichtlich, dass er durch diese Jugend und vor allem die Kriegserfahrungen tief geprägt wurde. In seinem Beuys-Buch „Zeig deine Wunde“ schreibt Rüdiger Sünner: „Ein Blick auf Beuys’ Gesamtwerk zeigt, dass darin die NS-Zeit als traumatische Schicht intensiv weiterwirkt. Beuys spricht nicht umsonst in einem Interview von dem »Schock«, den er nach dem Krieg erlitten hat, als er vom wahren Ausmaß der Nazi-Gräuel erfuhr. Er nennt den Krieg sogar das »Urerlebnis, Grunderlebnis, was dazu geführt hat, dass ich überhaupt begonnen habe, mich mit der Kunst auseinanderzusetzen.«“
Und es sollte eine Kunst werden, die aufs Ganze ging. Und das auch in einem besonderen Sinne. Denn nach der Katastrophe des Nationalsozialismus wurde alles, was mit Mythen, nicht-konfessioneller oder esoterischer Spiritualität oder Mystik zu tun hatte, als gefährlich empfunden und möglichst vermieden. Zudem wurden die traumatischen Erfahrungen einer ganzen Generation und auch die Schuldfrage des Einzelnen größtenteils verdrängt. Mit Rationalität und Tatendrang ging es an den Wideraufbau.
Ganz anders Beuys, denn in seiner Kunst leben die Mythen weiter, wie z. B. seine schamanischen Aktionen zeigen. Aber auch das Trauma des Krieges ist in vielen Arbeiten spürbar wie z. B. in der „Auschwitz-Vitrine“. Für mich wird das in seiner Installation „Zeig deine Wunde“ sehr deutlich, die ich schon mehrfach in München gesehen habe. Oft kamen mir in der Betrachtung auch die Erinnerungen an die Leichenbaren, die ich in ehemaligen Konzentrationslagern gesehen habe. Und die ausgestellten Werkzeuge legen die tiefe Verwundbarkeit des Menschen offen.
Beuys stellte seine Kunst und Person immer wieder ins Licht des Mythischen. Er knüpfte an Ideen der Romantik und Anthroposophie an, um geistige Zusammenhänge zu durchdringen und in seiner Kunst zum Ausdruck und in Aktionen ins Gespräch zu bringen. In einer Zeit, in der die Angst vor großen Menschheitsvisionen den Menschen in den Knochen saß, entwarf er die Vision einer Gesellschaft, die vom kreativen, künstlerischen Prinzip, der schöpferischen Kraft des Einzelnen durchdrungen ist: »Jeder Mensch ist ein Künstler.« Für ihn bildete dieses schöpferische Erwachen auch den Kern einer spirituellen Transformation des Menschen.
Er wollte dem Rationalismus und der fortschreitenden Industrialisierung der Nachkriegszeit mit Umweltzerstörung und Wettrüsten mit einer Revolution des schöpferisch belebten Einzelnen begegnen. Seine soziale Plastik entsteht aus der ko-kreativen Beziehungswärme selbst-bewusster, kritischer und schöpferischer Menschen – aller Menschen. Das unterscheidet sein von Natur aus universelles Werk grundlegend von der Vorstellung einer Gemeinschaft, die aus Ich-Auflösung entsteht und auf Ausgrenzung und Vernichtung anderer abzielt, wie es die Nazis wollten und umsetzten. Es unterscheidet auch seinen künstlerischen Ganzheitsentwurf von Wagners Ideen. Wagner wollte, so könnte man vielleicht sagen, eine totale Kunst, in der die Menschen in der Strahlkraft eines schon gebildeten Mythos zu ihrer eigenen Würde finden. Der Einzelne findet zu seiner Bestimmung im Mitwirken an diesem lebendigen Mythos im Herzen des Volkes. Solch eine totale Kunst kann leicht auch totalitär werden. Beuys aber wollte dem Menschen keine totale Vision überstülpen, sondern ganz im Gegenteil, das Ganze der Gesellschaft von seiner Wurzel her, den selbstbestimmten Menschen und der in ihnen wirkenden Schöpferkraft, erwachsen lassen. In einem evolutionären Prozess, der als sich entfaltender Mythos erlebt werden kann, insofern er sich auch durch Imagination, Bilder und sozialgestalterische Formen formt und vermittelt. Es ist ein Ganzes, das aus der Beziehung freier, ganzheitlicher Menschen unaufhörlich gebildet und umgebildet wird.
Das neue Ganze
Auch heute ist die Angst vor großen Visionen spürbar. In Politik und Geistesleben überwiegt der Versuch, angemessen auf das zu reagieren, was geschieht. Aber die Frage: »Wie wollen wir eigentlich leben?«, »Wie soll die Zukunft der Menschheit gestaltet werden?«, wird nicht umfassend diskutiert. Gleichzeitig wirft uns die Globalisierung, die Klimakatastrophe und Bestrebungen, durch die Digitalisierung eine technokratische Gesellschaft zu gestalten, in eine Situation, in der es rein faktisch ums Ganze geht. Um den Sinn und das Überleben unserer Spezies.
Die Kunst, die heute als nicht systemrelevant gilt, hat hier vielleicht in ihrem erweiterten Sinne die überlebenswichtige Aufgabe, in uns allen den Blick auf das Ganze zu entwickeln und uns visionsfähig zu machen. Denn wie sich gezeigt hat: Der Wandel zu einem individuellen und kollektiven Handeln, das ökologischer, ganzheitlicher und sozialer ist, entsteht nicht durch Fakten, Wissen, Appelle und Regeln allein. Diese Transformation, vielleicht sogar Revolution, erfordert eine Bildung und Potenzialentfaltung des Einzelnen hin zu den jedem Menschen innewohnenden schöpferischen Kräften. Hier liegt ein weitgehend ungenutztes Reservoir an Vorstellungskraft, Kreativität, Fantasie und Neugestaltung in unserer Mitte bzw. in unserer Tiefe. Es ist das »gesellschaftliche Magma« wie es der Philosoph und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis nennt, das unter der starren Kruste eines zweckrationalen, technifizierenden und instrumentellen Denkens weitgehend verborgen und ungenutzt liegt.
Eine Hebung dieses Potenzials wäre die eigentliche politische und soziale Aufgabe, die unsere gesellschaftlichen Beziehungen verändern könnte, sodass sie Labore einer möglichen Zukunft werden, in denen neue Formen von Zugehörigkeit und Sinn erfahrbar werden. Und die Gesellschaft wäre dann erfüllt, durchwirkt von der Kreativität und Beteiligung ihrer mündigen Bürger, wie sie sich schon in vielen zivilgesellschaftlichen Bewegungen rund um Fridays for Future, Extinction Rebellion, Gemeinwohlökonomie, partizipative Demokratie oder Grundeinkommen zeigt.
»Jeder Mensch ist ein Künstler«, sagte Beuys, und gemeinsam gestalten wir alle die soziale Skulptur Gesellschaft und die Vision einer lebenswerten Zukunft. Trotz aller Vorsicht, die bei großen Visionen und ihrer ästhetischen Vermittlung geboten ist – wie es uns unsere Geschichte lehrt –, scheint mir, dass wir diesen schöpferischen Blick auf das Ganze heute dringend brauchen.
Erstveröffentlichung: mike-kauschke.de
Mike Kauschke ist Redaktionsleiter des evolve Magazins, Autor, Dichter, Fotograf, Übersetzer und Dialogbegleiter im „emergent dialogue“. Am 15. Juli erscheint sein Buch „Auf der Suche nach der verlorenen Welt – Eine Reise zur poetischen Dimension unseres Lebens“.