Reflexionen

Was uns Kinderbücher lehren

01.02.2023 - Daniela Ribitsch

Seit ich denken kann, lese ich das Lustige Taschenbuch. Mein Zuhause ist vollgestopft mit Hunderten dieser Taschenbücher: sowohl den monatlich erscheinenden als auch den Spezial-, Oster- und Weihnachtseditionen. Besonders gerne mag ich die Geschichten rund um Donald, seine drei Neffen Tick, Trick und Track sowie Onkel Dagobert. Die Dialoge sind wundervoll clever und witzig und die Themen der Geschichten reichen von Eifersucht, Wohlstand und Armut über Schatzjagden, Raubüberfälle und Hexen, bis hin zu faulen und tollpatschigen Verwandten, Urlaubstrips, Umweltschutz und den Schattenseiten der modernen Technik. Tick, Trick und Track benutzen nicht nur ihr Köpfchen, und retten damit oftmals ihre beiden Onkel, sondern sie zeigen uns Leser*innen außerdem, wie wertvoll Freundschaft und ein gutes Herz sind. Sie sind Helden, ohne dafür andere töten zu müssen, wie es heutzutage in Kinofilmen und Fernsehserien so modern ist.

Über die Jahre hinweg habe ich mir eine schöne Sammlung an Kinderbüchern englischsprachiger Schriftsteller*innen aufgebaut. Meine Lieblingsbücher sind allerdings noch immer jene aus meiner Kindheit. Ich lese sie mindestens einmal pro Jahr. Letzten Monat las ich Die kleine Hexe in zwei Stunden. Obwohl die neuen Auflagen bunte Illustrationen beinhalten, liebe ich mein guterhaltenes schwarz-weißes Exemplar aus dem Jahre 1957. In diesem - wie auch in seinen anderen Büchern - zeigt Otfried Preußler Kindern, wie sie Herausforderungen mit Gutherzigkeit meistern können und wie wichtig Freundschaft ist. Unter der sanften Führung ihres besten Freundes, dem klugen und der Menschensprache mächtigen Raben Abraxas, begleiten wir die kleine Hexe ein Jahr lang in ihrem Bestreben, eine gute Hexe zu werden. Sie hat von Natur aus ein gutes Herz und Abraxas leitet sie dazu an, auf dieses auch zu hören. Mit ihrer Hexenkraft hilft sie menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen, etwa Pferden, die von ihrem Besitzer geschlagen werden, einem armen Mädchen, für dessen Papierblumen sich keine Menschenseele interessiert, und einer Frau, deren Mann das ganze Geld beim Kegeln verspielt. Wir beobachten die kleine Hexe dabei, wie sie an ihren guten Taten wächst und wie erfüllend es für sie ist, anderen Gutes zu tun.

Das Buch, das ich gleich danach las, war Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf. Natürlich hat Lindgren viele tolle Figuren erschaffen, doch am liebsten mag ich Pippi. Was ja auch kein Wunder ist. Ich meine, welches Kind würde nicht gerne Pippi sein wollen? Mit nur neun Jahren hat sie bereits den ganzen Erdball bereist, lebt in einem zerfallenen Haus mit einem Affen, einem Pferd und einem Koffer voller Goldstücke, geht nicht in die Schule und ist zudem das stärkste Mädchen der Welt. Sie ist immer fröhlich, hat ein wundervoll gütiges und zugleich mutiges Herz und zeigt uns, wie wertvoll Freundschaft und Gutherzigkeit sind. Für Thomas und Annika verwandelt sie jeden Ausflug in ein Abenteuer, sei es nun ein Marktbesuch, ein Einkaufsbummel oder eine Wanderung.

An einem Nachmittag im Winter, draußen ist es schon dunkel, beschließen Pippi, Thomas und Annika, niemals erwachsen werden zu wollen, denn Erwachsene haben keinen Spaß und sorgen sich immer um so unwichtige Dinge wie Arbeit, Kleidung oder Kommunalsteuern. Glücklicherweise hat Pippi drei „Krummeluspillen“. Zwar sehen die wie gewöhnliche Erbsen aus, doch wenn die Kinder die richtige Formel sagen, werden sie für immer Kinder bleiben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine solche Pille in dem von Smartphones, sozialen Medien und Helikoptereltern dominierten 21. Jahrhundert würde schlucken wollen. Laut einem Artikel in der am 16. Dezember 2022 erschienenen amerikanischen Ausgabe des englischsprachigen Nachrichtenmagazins The Week haben Ängste, Depressionen und Suizid bei amerikanischen Kindern und Teenagern zugenommen. Einer der Hauptfaktoren sind Smartphones und die sozialen Medien, von denen die Kindern lernen, dass Erfolg und attraktives Aussehen wichtig sind. Ständig die coolen Fotos von anderen zu sehen verringert das Selbstwertgefühl. Da Kinder so viel Zeit online verbringen, sehen sie auch kaum mehr ihre Freund*innen und andere Menschen von Angesicht zu Angesicht und fühlen sie daher einsam. Das zweite große Problem sind Helikoptereltern, die jeden einzelnen Schritt ihres Kindes verfolgen und unentwegt versuchen, es von Stress fernzuhalten. Freilich meinen es die Eltern gut, doch sie hindern das Kind daran, sich zu einem selbstständigen und selbstbewussten Menschen zu entwickeln, der eigenständig Hindernisse überwinden kann.

Die Abenteuer von Tick, Trick und Track, der kleinen Hexe und Pippi stellen eine Kindheit dar, die mir so viel erstrebenswerter erscheint als das heutige Angebot. Ihre Abenteuer erinnern mich an die Geschichten, die mir Mama aus ihrer Kindheit erzählt. Damals waren Eltern und Lehrer*innen sehr streng und die Menschen waren auch nicht so wohlhabend, wie es heutzutage der Fall ist. Ihre Mutter fuhr sie und ihre Geschwister mit dem Rad zum Zahnarzt und strickte die Kleidung selbst. Die Tante im Sommer am Land zu besuchen war der einzige Urlaub. Da es nicht viel Wohlstand gab, hatten Mama und ihre Geschwister nicht viel Spielzeug, das sie hätte beschäftigen können. Vielmehr verbrachten sie viel Zeit mit ihren Freund*innen im Freien und wussten mit so einfachen Spielen wie Ballspielen, Seilspringen, Federball, Radfahren und Eislaufen Spaß zu haben. Ich glaube, während dieser Zeitperiode wäre ich sehr viel leichter in Versuchung geraten, eine von Pippis Krummeluspillen zu schlucken.

Tick, Trick und Track, die kleine Hexe, Pippi, Thomas und Annika zeigen uns, was es bedeutet, ein Kind zu sein: nämlich die eigene Fantasie zu benutzen und mit Freund*innen fernab ständiger Aufpasser*innen, Smartphones und sozialer Medien zu spielen. Ja, schlimme Dinge passieren auf dieser Welt. Doch vielleicht genau deswegen, weil eben schlimme Dinge passieren, müssen wir unseren Kindern zeigen, dass wahre Freundschaft und Güte viel wichtiger sind als Erfolg und attraktives Aussehen. Und wie Abraxas sollten auch wir unsere Kinder sanft in die richtige Richtung lenken und ihnen vertrauen, dass sie die Herausforderungen des Lebens auch ohne unser ständiges Eingreifen meistern können.

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