Eine Frage des MILIEUs

"Verlieren wir in der Informationsflut unsere Neugier?"

01.08.2016 - Prof. Stefan Rieger

Die Frage bezieht sich auf drei Aspekte:

Erstens den Verlust als dasjenige Register, in das die kulturkritisch Gestimmten die Erfahrung von Veränderung jedweder Art gerne eintragen. Die Bandbreite reicht von veränderten Gepflogenheiten der Kommunikation und des Wissenserwerbs bis hin zur Mediatisierung sämtlicher Lebensverhältnisse.

Man schwelgt in Negativbilanzen von Lebensferne und Entfremdung, von verhinderter Natürlichkeit und verstellter Individualität, von Banalisierung und Abgestumpftheit.

Zweitens wird mit dem Begriff der Informationsflut näherhin ein Bezug zu technischen Medien hergestellt. Doch anders als im Fall des Buchdrucks, der einmal als Vehikel von bürgerlicher Öffentlichkeit und gar von Aufklärung gefeiert wurde, zeichnet die Formulierung ein maritimes Milieu der Bedrohung. Fluten setzen Wasser voraus, um in ihnen zu versinken und unterzugehen, um in sie ein- und abzutauchen. Immersion lautet das Stichwort, als dessen unfreiwillige Helden jene Computerspieler*innen gelten, die angeblich zwischen real und virtuell nicht mehr zu unterscheiden wissen.

Mit der Neugierde kommt drittens eine anthropologische Kategorie ins Spiel, die für Aufgeschlossenheit und Offenheit gegenüber der Welt steht. Sie ist, so indiziert das Fragezeichen, scheinbar in Gefahr, verloren zu gehen.
Die rhetorische Frage scheint dabei so offensichtlich auf ein ‚Ja‘ abgestellt, dass es sich vielleicht lohnen könnte, den drei genannten Facetten einmal ein entschiedenes Nein entgegenzuhalten.

Die Klage über den Verlust hat einen Bart, der so lang ist wie die betrauerte Moderne selbst. Wie in den Großstädten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in denen durch veränderte Kommunikations- und Verkehrstechniken die Menschen um den Verstand gebracht werden, immer läuft es auf dieselbe Logik hinaus: Zu viele Reize führen zu dem, was die Zeitgenossen als Überflutung empfinden. Begriffe wie jener der Überbürdung eröffnen damit zugleich ein Konto, auf das sich modernespezifische Pathologien von Nervosität bis zu Hysterie, oder entsprechend aktualisiert Facebook-Depression und ADHS, Burn- oder Boreout oder digitaler Demenz buchen lassen.

Auch die Klage über die Immersion hat ebenfalls einen Bart, der bis in die Goethezeit zurückreicht. Im Fall der dort so genannten Romanenflut, derzufolge vor allem Frauen und labile Seelen durch die Auswüchse gehäuften Lesens bedroht sind, kommt ein Argument zum Einsatz, das sich heute wie ein Treppenwitz der Medienkritik ausnimmt. Ausgerechnet der Griff zum guten Buch, der durch das exzessive Nutzungsverhalten digitaler Medien angeblich verhindert werde, soll in den Hochzeiten deutscher Klassik ein Problem dargestellt haben. Es zeugt von der Hartnäckigkeit fluider Bedrohungsszenarien, dass zwei so historisch wie technisch entfernte Medienkulturen in ein- und demselben Register verhandelt werden.
Auf die Frage, ob das Lesen der Konzentration oder der Zerstreuung diene, antwortet Plinius der Jüngere mit einem Plädoyer der Gründlichkeit: „Man sagt, es müsse viel, aber nicht vielerlei gelesen werden“ (Epistolae VII, 9, 15). Neugierde und Aufmerksamkeit werden auch heute noch gegen Fülle und Vielfalt in Position gebracht. Letztere bedrohen Erstere und machen sie als ideologisch besetzte und normativ geprägte Konzepte sichtbar. Wer so redet, glaubt zu wissen, welches Wissen überhaupt wissenswert ist und auf welches Wissen es sich zu konzentrieren lohnt. Einer solchen Haltung steht entgegen, dass eine Politik der verteilten, der gezielt eingesetzten oder eben auch der dezidiert verweigerten Neugierde vielleicht die einzig adäquate Möglichkeit ist, sich mit der Vielfalt an Informationen und Informationsquellen, die als Flut herbei- und schlechtgeredet wird, zurechtzufinden. Angesichts einer schon lange vor den neuen Medien unmöglich gewordenen phantasmatischen Ganzheit besitzbaren Wissens gilt es, Möglichkeiten des Ausblendens und der Nichtbeachtung gezielt zu nutzen und sich auf der Grundlage einer partizipativ zugänglichen Informationsfülle einen Kosmos eigener Interessen aufzubauen. Um das zu können, ist eine positiv besetzte Indifferenz, eine unaufgeregte und nicht charakterologisch besetzte Gleichgültigkeit gegenüber einer Vielfalt anderer Phänomene notwendig. Nein, nicht überall, wo Fülle herrscht, muss auch in ihr untergegangen werden.

Es ist wohlfeil, die Gegenwart als zerstreut zu beschreiben und etwa im Typus des Multitaskers zu karikieren. Menschen, die unterschiedliche Dinge gleichzeitig verrichten, die gehend simsen, telefonierend Auto fahren und Medien nur noch als Hintergrundgeräusch konsumieren, werden nicht umsonst an den Pranger verfehlter Aufmerksamkeitsökonomien gestellt. Der Wunsch einer Fokussierung auf das, was einmal das Wesentliche genannt und als Gegenstand einer positiven Neugierde anempfohlen werden konnte, ist allerdings naiv, verfehlt er doch die Lage der Gegenwart massiv. Diejenigen, die den Kritikern als zerstreut und abgestumpft gelten, können nicht zurückkonzentriert werden. Die Inganghaltung der eigenen Persönlichkeit, die unablässige Bewirtschaftung des eigenen Ich, ist vielmehr ein Programm, dem sie sich verschrieben haben – nicht aus einem Akt der Überlegung, sondern als Effekt von rekonstruierbaren sozialen Praktiken und sich verändernden technisch-medialen Umwelten. Die Möglichkeit von Selbstinszenierung steht im Zeichen der Fülle, die in quantitative Exzesse münden – bei Posts und Statusmeldungen, bei Followern und Likes zählt die Zahl.

Dass sich diese Lage im Bild des Hamsterlaufrads verdichtet und als Warnung zerstreuter Nicht-Mehr-Wirklich-Menschen (Smombies) allgegenwärtig ist, birgt eine eigenwillige Pointe. Um diese zu verstehen, muss man noch einmal zurück ins 19. Jahrhundert. Über die Korrektur der Zerstreuten äußert sich im Jahr 1818 der Irrenarzt Christian August Fürchtegott Hayner unter dem Titel Ueber einige mechanische Vorrichtungen, welche in Irrenanstalten mit Nutzen gebraucht werden können. Den Tobsüchtigen, der an einer zu hohen Frequenz innerer Bilder leide, gilt es zu konzentrieren. Statt dazu auf einen etablieren Gerätepark der ihm zeitgenössischen Psychiatrie zurückzugreifen, empfiehlt Hayner eine Maschine, die „im Stande ist, dem Strome ihrer meist unvollendeten, zerrissenen Ideen einen Damm zu setzen, ihre Aufmerksamkeit in der Continuation auf etwas Bestimmtes zu lenken“ (ebd.) oder wie es an anderer Stelle heißt, „den Zerstreuten anhaltend auf sich selbst zurückzurufen“ (ebd.). Fündig wird er in Gestalt eines hohlen Rades, worin damals Stieglitze, heute, wie in den Zoohandlungen unserer Tage immer noch zu bestaunen, Hamster und Mäuse laufen. „Es kam darauf an, dieß so zu konstruieren, daß der Kranke Ruhe genießt, so lange er ruhig ist, hingegen in Bewegung fortgerissen wird, sobald er sich bewegt“ (ebd.). Im hohlen Rad, das als Korrektiv diente, findet unsere Zeit ihre emblematische Verdichtung. Wir sind im Zuge einer bedingungslosen Selbstökonomisierung wie in einem Laufrad unablässig auf dem Weg zu uns selbst, ohne uns je zu erreichen. Und was immer als damit verbundener Verlust der Neugierde beschrieben wird, ist allen Entschleunigungs- und Achtsamkeitsratgebern zum Trotz Teil dieses Programmes.

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