The First World War. A Course in Game Theory and International Security.
01.07.2020 -"The world is a messy and confusing place. We do not enhance our understanding of it by saying messy and confusing things about it."(Harrison Wagner)
Der Erste Weltkrieg ist sowohl für Geschichtswissenschaftler als auch für Politikwissenschaftler immer wieder ein attraktives Forschungsthema. Unter Historikern ist es die "klassische" Frage: Sind die europäischen Staaten 1914 sozusagen "aus Versehen" in diesen Krieg hineingeraten, nicht ahnend, was ihnen in den danach folgenden vier Jahren bevorstand? Oder war der Erste Weltkrieg die Kulmination einer schon länger avisierten Strategie Deutschlands, die Vorherrschaft in Europa zu erlangen also als "Griff nach der Weltmacht" (so der Titel des Buches des Hamburger Geschichtswissenschaftlers Fritz Fischer, das die eindrucksvolle "Fischer-Kontrovers" über die Rolle Deutschlands in den Jahren von 1914 ausgelöst hat). Für Konfliktforscher bietet der Ausbruch des Ersten Weltkriegs viele Möglichkeiten, Standardaspekte der Kriegsausbruchs-Analyse zu analysieren wie zum Beispiel Machtgleichgewicht, Rüstungswettlauf, Wahrnehmungsprobleme unter Stress, Eskalationsprozesse etc. Methodisch wird dieses inhaltliche Interesse noch dadurch gesteigert, dass alle wichtigen (diplomatischen) Akten inzwischen einsehbar sind.
Scott Wolford, Professor an der Universität von Texas, gehört zu der zweiten Gruppe von Wissenschafts-Interessenten am Ersten Weltkrieg. Sein höchst interessanter neuer Aspekt ist dabei, Vorkriegspolitik, Kriegsausbruchsfaktoren, Kriegsverlauf und Friedensschluß mit den methodischen Instrumentarium der politikwissenschaftlichen Spieltheorie in Verbindung zu bringen. Da das Buch Wolfords neben dem wissenschaftlichen Vorgehen auch das didaktische Ziel verfolgt, Studierende sowohl mit der Konfliktforschung als auch mit den Methoden der wissenschaftlichen Spieltheorie vertraut zu machen, präsentiert Wolford eine erfreulich konzise Darstellungsweise: Jedes der Buchkapitel hat ein dreigliedriges Profil. Zuerst wird ein bestimmter Aspekt bzw. Periode des Ersten Weltkriegs dargestellt, danach eine grundlegende Frage zum Sachverhalt gestellt und diese mit den Erkenntnissen der Spieltheorie konfrontiert.
Die ersten beiden Schritte sind sehr gut gelungen: In klarer Diktion beschreibt Wolford auf dem aktuellen Forschungsstand, was in den Jahren 1914 bis 1918 passiert ist und welches die dafür entsprechenden analytischen Perspektiven sind. Schwieriger wird es für den Leser, wenn er Wolfords spieltheoretischen Argumentation folgen soll. Zwar sind unfraglich spieltheoretische Theoreme wie Gleichgewicht oder das sogenannte "Gefangenendilemma" schon seit längerem ein bewährtes Mittel, um einen guten analytischen Blick auf (internationales) Konfliktverhalten zu werfen, aber Wolford übertreibt es mit seiner Intensität, mit der er die Spieltheorie heranzieht. Auf jeden Fall werden mathematisch und spieltheoretisch nicht-geschulte LeserInnen oftmals an den vielen mathematischen (wenn auch nach Wolford sicher notwendigen und richtigen) Formeln scheitern und vielleicht sogar das Buch aus diesem Unvermögen des Verstehens leider wieder beiseite legen. Das ist schade, weil Wolford ansonsten seine politikwissenschaftliche Konfliktanalyse gut darstellt und mit vielen Beispielen versieht.
Vielleicht hat sich Wolford selber unter einen nicht so konstruktiven methodischen Zwang gesetzt, den oben erwähnten methodischen Dreischritt in all seinen Buchkapiteln rigoros beizubehalten. Genauer gesagt, es wäre hin und wieder vielleicht überzeugender gewesen, sich nicht unter den selbst auferlegten Druck zu bringen, "alles" unter spieltheoretischen Gesichtspunkten interpretieren zu müssen. Es wäre einfach lese"entspannender" gewesen, wenn Wolford nicht ausschließlich auf die analytische Karte der Spieltheorie gesetzt hätte, sondern auch deren Grenzen und Bedingtheiten demonstriert hätte, vielleicht sogar bis dahin einmal zu konzedieren, dass bei diesem und jenem Konfliktverhaltensmuster eben die Spieltheorie auch nicht mehr an Erkenntnisgewinn erbringt als traditionelle analytische Zugriffsaspekte der Konfliktforschung.
Dennoch ist Wolfords Buch ein höchst anregender neuer Versuch, sich konfliktanalytisch mit dem Ersten Weltkrieg zu beschäftigen. Der Autor zeigt überall in seinem Buch ein profundes Wissen sowohl für die Details des Ersten Weltkriegs als auch für die Palette des politikwissenschaftliche analytischen Instrumentariums. Die vorzügliche Gliederung des Buches und die didaktisch überzeugende Vorgehensweise plus das gute Register machen es zu einer empfehlenswerten Publikation, die man auch mit Gewinn lesen kann, ohne alle die darin verwendeten mathematischen Formeln zu verstehen.