US-Soziologe im Interview

Prof. Richard Alba: "Deutschland hat ein Patriotismus-Problem"

01.10.2015 - Tahir Chaudhry

Der amerikanische Soziologe Richard Alba hat die Einwanderungspolitik in sechs Ländern untersucht. Deutschland schneidet schlecht ab. Alba fordert, mit dem Islam in Europa besser umzugehen.

DAS MILIEU: Herr Alba, Sie haben sechs Länder in Bezug auf ihre Einwanderungs- und Integrationspolitik untersucht. Welches Land würden Sie zum Integrationsweltmeister küren?

Prof. Alba: Es gibt keinen Gewinner. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass die Mängel von Land zu Land variieren. Wir haben versucht zu verstehen, wie verschiedene institutionelle Sektoren der jeweiligen Länder die Integration behindern oder fördern. Dabei haben wir erfahren, woran es fehlt und was gut funktioniert. In Deutschland ist uns besonders aufgefallen, dass die Strukturen im Bildungssystem es für Einwanderer aus der Arbeiterklasse sehr schwierig machen, Fortschritte in der Bildung zu erzielen. Ein Grund dafür ist die Einordnung der Schüler nach der vierten Grundschulklasse.

DAS MILIEU: Lassen Sie mich meine Frage anders formulieren: Wenn Sie ein Einwanderer wären und die Wahl hätten: Für welches Land würden Sie sich entscheiden?

Prof. Alba: Ich denke, das wäre abhängig davon, woher ich stammen würde. Weil Rasse in Amerika eine ausschlaggebende Rolle bei der Integration spielt, wäre es dort für jemanden mit schwarzer Hautfarbe schwieriger als in europäischen Ländern. Als muslimischer Einwanderer aus Nordafrika oder der Türkei wäre es dagegen ungünstiger nach Europa zu ziehen als nach Amerika oder Kanada.

DAS MILIEU: Wie schneidet Deutschland in Ihren Untersuchungen ab?

 

Prof. Alba: Zunächst muss ich sagen, dass die Einwanderungssituation in Deutschland eine andere ist als in den anderen Ländern, weil ein hoher Prozentsatz der Einwanderer aus anderen europäischen Ländern stammt. In unserem Buch beschäftigen wir uns mit der geringqualifizierten Einwanderung, weil diese Art der Einwanderung die gesellschaftliche Integrationsfähigkeit stärker herausfordert. Trotz der Tatsache, dass die türkischen Einwanderer eine große Gruppe bilden, ist sie in Relation zur deutschen Bevölkerung sehr klein. Deutschland ist in dieser Hinsicht im Vorteil.

Man kann festhalten, dass Deutschland mit der geringqualifizierten Einwanderung substantielle Probleme hat. Wenn wir uns die Situation der Türken im Schulsystem anschauen, werden erhebliche Ungleichheiten sichtbar. Und wenn wir uns die Situation der Türken auf dem Arbeitsmarkt anschauen, dann sehen wir sogar in der zweiten Generation maßgebliche Probleme. Deutschland schneidet also bei der Integration nicht-westlicher Einwanderer nicht gut ab. 

 

DAS MILIEU: In Deutschland herrscht die Meinung vor, dass Parallelgesellschaften ein ernsthaftes Problem und Gefahr für das Zusammenleben der Bürger darstellen. Wie gehen andere Länder mit diesem Phänomen um?

 

Prof. Alba: Generell bin ich der Meinung, dass die Sorge vor Parallelgesellschaften in vielen Ländern und besonders in Deutschland völlig übertrieben wird. Als Amerikaner, der in Deutschland gelebt hat, würde ich sagen, dass Deutschland mehr Selbstbewusstsein und einen Optimismus bezüglich der langfristigen Integrationsfähigkeit von Einwanderern und ihrer Kinder braucht. Wenn es um abgeschottete Wohnquartiere geht, sieht es in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern sehr bescheiden aus. Sicherlich gibt es viele Türken, die unter sich bleiben, aber das geht eher darauf zurück, dass sie sich aus der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen. Man könnte also von einem beidseitigen Problem sprechen. 

 

DAS MILIEU: In Deutschland fühlen sich große Teile der Einwanderer aus der Türkei und verschiedenen arabischen Ländern diskriminiert und vom wirklichen Deutschsein ausgeschlossen. Wie beurteilen Sie dieses Problem im Vergleich zur Lage in Kanada und den Vereinigten Staaten?

 

Prof. Alba: Ein großer Unterschied liegt in der Geschichte des Staatsbürgerschaftsgesetzes und welche Bedeutung es für diejenigen hat, die in Amerika und Kanada geboren werden. Jeder Mensch, der hier geboren wird, ist laut Verfassung ein Amerikaner. In Deutschland änderte sich das Gesetz erst für diejenigen, die ab Januar 2000 geboren wurden. Für die Türken bedeutet es, dass Kinder aus der zweiten Generation, die heute Erwachsene sind, oft keine deutschen Staatsbürger sind. Diese müssen sich einbürgern lassen. Das haben aber anscheinend nur wenige getan. Das ist natürlich einer der Gründe, warum sich viele Türken nicht als Teil der deutschen Gesellschaft begreifen. Der Staat könnte nun Schritte unternehmen, um die Einbürgerung für diese Menschen zu erleichtern. 

 

DAS MILIEU: Es scheint, als seien die meisten Schwarzen, Latinos und Asiaten in den Vereinigten Staaten stolze Amerikaner - trotz aller Probleme. Stimmt diese These?

 

Prof. Alba: Ja, das stimmt. Sie fühlen sich als Amerikaner. Diese Menschen fühlen sich ihrem Land mehr zugehörig als ethnische Minderheiten in europäischen Staaten. In nordamerikanischen Gesellschaften gibt es eine grundlegend andere Haltung gegenüber Einwanderern und ihren Kindern. Es gibt ein Bewusstsein dafür, dass diese Gesellschaften von Einwanderern errichtet wurden. Das hat einen sehr positiven Einfluss auf den Umgang mit Einwanderern. Das führt oftmals zu einer Bereitschaft, Einwanderer als Amerikaner „im Werden“ anzusehen und ihre Kinder als vollwertige Amerikaner zu akzeptieren. Diese Willkommenskultur lässt auch Raum dafür, die Verbindung zur jeweiligen Abstammung zu pflegen und gleichzeitig als amerikanischer Bürger angenommen zu werden. Das Fehlen dieses Raumes erhöht die psychologische Last für Einwanderer in Europa, weil sich eine völlige Hinwendung zur Welt der Mehrheitsgesellschaft äußerst schwierig darstellt. 

 

DAS MILIEU: Ist Deutschland in diesem Zusammenhang nicht in einer besonderen Situation, weil Patriotismus für die Deutschen ein Tabu ist?

 

Prof. Alba: Ist es wirklich noch ein Tabu? Ich war 2006 während der Fußball-WM in Deutschland. Die Identifikation mit der omnipräsenten deutschen Flagge hat mich damals sehr überrascht. Das war nicht das Deutschland, was ich von früher kannte, wo Patriotismus nur sehr bescheiden zum Vorschein kommen durfte. 

 

DAS MILIEU: Das beschränkt sich aber nur auf Weltmeisterschaften.

 

Prof. Alba: Sie haben natürlich recht, dass Deutschland ein Patriotismus-Problem hat. Es gibt einen langen psychologischen Schatten, den der Zweite Weltkrieg wirft. Die Vereinigten Staaten sind im Gegensatz dazu ein extrem patriotisches Land, wo sich Menschen nicht davor scheuen, überall die Flagge zu hissen. Als würde man nicht wissen, in welchem Land man gerade ist (lacht). Die amerikanische Flagge gehört bei uns zum Alltag. Und auch wenn Einwanderer zeigen wollen, dass sie zum selben Land gehören wollen, dann zeigen sie Flagge.

 

DAS MILIEU: In Ihrer Untersuchung heißt es, dass der Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und Europa darin besteht, dass es in Amerika einen Fokus auf der Rassenfrage gibt und in Europa auf der Religionszugehörigkeit. Warum ist das so?

 

Prof. Alba: Man kann ruhig Islam-Frage sagen. Sie steht in Europa im absoluten Fokus, weil Muslime natürlich einen größeren Teil der Bevölkerung ausmachen als in den Vereinigten Staaten. Der Fokus liegt unter anderem deshalb auf der Islam-Frage, weil viele Einwanderer, die aus islamischen Staaten nach Europa kommen, wenig gebildet sind, aus der Arbeiterklasse stammen und auf der Suche nach Arbeit sind. Das löst Ängste aus. Es ist nun mal so, dass mehrheitlich Marokkaner in die Niederlande, Algerier nach Frankreich und die Türken nach Deutschland kommen. Hingegen sind die muslimischen Einwanderer in den Vereinigten Staaten sehr gebildet und kommen aus anderen Teilen der Welt, besonders aus Südasien. 

 

DAS MILIEU: Welche Rolle spielt die Religiosität der Gesellschaften?

 

Prof. Alba: Eine ganz zentrale Rolle. Amerikaner sind pauschal ausgedrückt religiöser als Europäer, die sich als säkularisiert verstehen. Für Amerikaner ist es nicht befremdlich, wenn Menschen ihre Religion ernst nehmen, moralische Schlüsse für den Alltag aus ihr ziehen und sich sogar in der Politik von ihren religiösen Werten leiten lassen. Die säkularisierten Gesellschaften in Europa sind skeptischer gegenüber Einwanderern, deren Leben in gewissem Maße durch Religion bestimmt wird. Doch auch in Europa findet sich die Erinnerung an das Christentum. Die Institutionen sind durchdrungen von christlichen Leitbildern. Diese Konstellation erschwert es dem Islam, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden.

In Deutschland ist der Islam keine Körperschaft, wird also rechtlich mit Judentum und Christentum nicht gleichgestellt. Der islamische Religionsunterricht in Schulen hat es schwer, sich deutschlandweit zu etablieren. Ich war auch immer erstaunt darüber, wie christliche Feste in einem Land begangen werden, in dem sich die Menschen immer mehr als säkularisiert verstehen. Feiertage wie Weihnachten, Fasching oder Ostern dominieren den öffentlichen Raum, während islamische Feiertage nicht beachtet werden. Muslime fühlen sich dadurch von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen. Aus ihrer Sicht wird ihre Religion nicht gleich behandelt.

 

DAS MILIEU: In den Vereinigten Staaten spielt Religion eine gewichtigere Rolle als in Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten. Warum sehen wir in Amerika nicht den zu oft erwarteten Zusammenstoß der Religionen?

 

Prof. Alba: Weil Amerikaner glauben, dass Religionen als solches etwas Gutes sind. Den Zusammenstoß der Religionen gab es vor hundert Jahren, keine Frage. Im Laufe des 21. Jahrhunderts wurde der religiöse Mainstream in Amerika vielfältiger. Es kam zu einer Akzeptanz des Katholizismus und des Judentums. Vor diesem Hintergrund ist es für den Islam nicht sonderlich schwer sich zu integrieren.

 

DAS MILIEU: In Ihrem Buch „Islam und Einwanderung in Europa“ schreiben Sie: „Während von religiös-konservativen Menschen erwartet wird, dass sie Verhalten wie Homosexualität, das von ihnen als unmoralisch angesehen wird, tolerieren, empfinden sie es als angebracht, religiöse Praktiken oder kulturelle Bräuche, die mit liberal-säkularen Normen in Konflikt stehen, nicht zu tolerieren“. Warum müssen in Europa besonders die Vorstellungen über sexuelle Freiheit und die Rolle der Frau akzeptiert werden, um toleriert zu werden?

 

Prof. Alba: Amerika ist eine religiöse Gesellschaft und daher bereit, die Forderungen verschiedener Religionen anzuerkennen. Sie sind bereit, Meinungsunterschiede in Bezug auf Sexualität und die Rolle der Frau zu akzeptieren. Das spiegelt sich auch in der politischen Sphäre wider, wo in Bezug auf diese Themen eine Meinungsvielfalt vorhanden ist. Diese fehlt in den Staaten Westeuropas. Der Islam wirkt dann nicht mehr als eine Ausnahme im liberalen Konsens über sexuelle Freiheit. 

 

DAS MILIEU: Die Frustration unter den Muslimen mit Migrationshintergrund liefert einen Nährboden für den Erfolg von Hasspredigern und ihrer radikalen Ideologien. Was kann getan werden, um die Radikalisierung einzudämmen?

 

Prof. Alba: Aus Europa sind viel mehr Kämpfer nach Syrien und in den Irak gereist, um für den Islamischen Staat zu kämpfen, als aus Kanada oder Amerika. Das liegt an dem problematischen Umgang mit Muslimen in Europa. Es ist eine Gleichstellung des Islam mit anderen Religionen notwendig. Ebenso braucht es eine größere Toleranz gegenüber vielschichtigen Identitäten, die eine Verbindung religiöser und ethnischer Hintergründe mit der Zugehörigkeit zum Land und zur Gesellschaft zulässt.

 

 

 

 

Erstveröffentlichung: FAZ.NET

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