Prof. Edgar Wolfrum: "Geschichte heißt Chance für die Gegenwart"
01.07.2017 -Die gesellschaftliche Bedeutung der Geschichtswissenschaft wird häufig unterschätzt. DAS MILIEU sprach mit Historiker Prof. Edgar Wolfrum, der seit 2006 Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg ist, über sein neu erschienenes Buch „Welt im Zwiespalt“, Deutschland als Einwanderungsland und den Klimawandel.
DAS MILIEU: Worin besteht für Sie der wissenschaftliche und gesellschaftliche Auftrag der Geschichtsforschung?
Prof. Dr. Edgar Wolfrum: Jeder Mensch hat eine Geschichte und alles, was heute ist, ist historisch so geworden. Geschichte zeigt uns also, wie wir geworden sind, was wir sind, und – auch das ist sehr wichtig - was wir nicht mehr sind. Geschichte zu erforschen ist also nicht allein ein wissenschaftlicher Auftrag, sondern eine gesellschaftliche Verpflichtung. Geschichtsbewusstsein vermag Orientierung zu liefern und unser Leben zu organisieren. Ganz einfach kann man sagen: Geschichtswissenschaft ist Aufklärung.
MILIEU: In einer Veröffentlichung zu Erinnerungskultur und Geschichtspolitik aus dem Jahr 2010 haben Sie geschrieben: „Heute hat das Fernsehen die Grundversorgung der Gesellschaft mit Geschichtsbildern übernommen“. Inwiefern bestimmen neue Medien heute den Verlauf der Geschichte durch ihren Einfluss auf den öffentlichen Diskurs?
Wolfrum: Es geht mir nicht um eine wohlfeile Medienkritik. In Demokratien sind Medien als vierte Gewalt wichtig. Als vor 150 Jahren Zeitungen zu einem Massenorgan wurden, war die Kritik ähnlich. Aber solche Medien funktionieren nach anderen Prinzipien. Skandalisierung ist ihre Methode, Meldungen im Sekundentakt mit einer sehr kurzen Halbwertszeit bestimmen immer mehr die öffentliche Perspektive. Da kann leicht das große Ganze aus dem Blick verschwinden. Dass Falschmeldungen und Gerüchte den Geschichtsverlauf bestimmen können, ist immer wieder vorgekommen. So gab es im Deutschen Kaiserreich eine tiefe Krise, weil eine Zeitung fragte: „Ist Krieg in Sicht?“
MILIEU: Sie haben mit „Welt im Zwiespalt“ ein Panorama des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Damit stehen Sie in der Tradition von Historikern wie Golo Mann. Was hat Sie dazu bewogen, selbst einen Beitrag zu diesem Thema zu verfassen?
Wolfrum: Zum 20. Jahrhundert ist längst noch nicht alles gesagt. Die Geschichtswissenschaft streitet sich darüber, was dieses Jahrhundert im Innersten zusammenhält. Sind es die Kriege, die Ideologien, die Krisen und der Terror? Es war aus diesem Blickwinkel ja wirklich ein zum Verzweifeln grausames Zeitalter. Der Holocaust war beispiellos, und weitere Völkermorde durchzogen die Epoche. Aber neben dieser absolut dunklen Seite, gibt es auch eine helle: Durchbrüche zur Freiheit, Ausbildung globaler Kulturen, immense Fortschritte in der Medizin usw. Mir ging es darum, beides zusammenzusehen und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen herauszuarbeiten. Um ein Beispiel zu nennen: die Wohlstandsexplosion auf der einen Seite und die Verelendung sowie Hungerkatastrophen auf der anderen. Beides hängt miteinander zusammen. So entsteht das Narrativ einer „Welt im Zwiespalt“.
MILIEU: „Welt im Zwiespalt“, befasst sich einerseits mit den Krisen und Kriegen des 20. Jahrhunderts, andererseits mit dessen humanistischen Errungenschaften. Worin bestehen die zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts?
Wolfrum: Geschichte ist kein linearer Fortschritt. Friedrich Schiller glaubte vor 200 Jahren noch, der Lauf der Geschichte bewirke eine ständige Vervollkommnung des Menschengeschlechts, wie er sich ausdrückte. Diesen Fortschrittsoptimismus haben wir nicht mehr. Wir sehen tiefe Rückschläge, die alles Erreichte zertrümmern können: Die Demokratie hat in vielen Ländern einen Rückwärtsgang eingelegt, es gibt Kriegspläne, Menschenrechte werden mit den Füßen getreten, der Hunger ist nicht besiegt, der Klimawandel wird geleugnet. Der Klimawandel wird zur Signatur der Welt im 21. Jahrhundert werden. Ende 2015 waren 64 Millionen Menschen auf der Flucht. Wenn die Klimaflüchtlinge sich auf den Weg machen, werden es 200 Millionen sein – dann kollabieren unsere Systeme
MILIEU: Können Sie folgenden Satz vervollständigen: „Wenn ich heute 50 Jahre in der Zukunft leben würde, im Jahr 2065, würde ich mir wünschen, dass…“
Wolfrum: … die Menschenrechte geachtet werden und der Klimawandel eingedämmt ist.
MILIEU: In Deutschland ist die AfD politisch auf dem Vormarsch, ähnliche Tendenzen lassen sich auch in anderen europäischen Ländern beobachten. Besteht im Hinblick auf Entwicklungen wie die sogenannte „Flüchtlingskrise“ die Gefahr, dass sich die Geschichte wiederholt und Deutschland zu einem fremdenfeindlichen Staat wird?
Wolfrum: Geschichte wiederholt sich nicht. Aber man kann aus ihr gegenüber aktuellen Problemlagen lernen, zumindest sensibler werden. Der Fortschritt ist nie „erreicht“, man muss ihn tagtäglich sichern, ausbauen, neu definieren. Verglichen mit vor 80 Jahren ist Deutschland ein bemerkenswert freiheitliches Land geworden. Aber auch das ist, bei allem Optimismus, keine Garantie für die Zukunft. Das Problem der „Flüchtlingskrise“ ist, dass Moral und Pragmatismus kollidieren. Deutschland allein kann die Welt nicht retten; viele europäische Staaten haben extrem versagt.
MILIEU: Helmut Schmidt äußerte sich zu der Flüchtlingskrise folgendermaßen: „Man kann aus Deutschland mit immerhin einer tausendjährigen Geschichte seit Otto I. nicht nachträglich einen Schmelztiegel machen. Aus Deutschland ein Einwanderungsland zu machen ist absurd.“ Wie betrachten Sie das im Kontext der Geschichte?
Wolfrum: Deutschland, in der Mitte Europas gelegen, war immer schon ein „Schmelztiegel“, lange vor seiner nationalen Vereinigung 1871. Schauen wir uns doch nur die Namen an: Schimanski, um den Kommissar zu nennen – ist das nicht polnisch? Was ist „deutsch“? War Otto I. ein „Deutscher“, war es Karl der Große? Solche Vergleiche führen aufgrund der Alterität der Zeiten nicht viel weiter. Das Problem ist, dass es kein Einwanderungsgesetz gibt, mit dem gesteuert werden kann – und ohne Einwanderung werden unsere Sozialsysteme über kurz oder lang kollabieren und die „Deutschen“ aussterben. Etwa 1 Prozent der Weltbevölkerung sind Deutsche.
MILIEU: Sie leiten zusammen mit Cord Arendes das Projekt „Heidelberg Public History“. Birgt die Aufbereitung historischen Wissens für die Öffentlichkeit die Gefahr einer populärwissenschaftlichen Verwässerung der Forschung?
Wolfrum: Genau das wollen wir vermeiden. Wissenschaftliche Standards dürfen nicht aufgeweicht werden. Dennoch kann man wissenschaftliche Ergebnisse so präsentieren, dass sie verständlich sind. Wir machen das etwa mit unserem großen Projekt zur Geschichte des NS in Baden-Württemberg. Auch kann man mit Lehrer, Schülern oder der interessierten Öffentlichkeit gemeinsame Projekte gestalten – um deutlich zu machen, wie komplex die Vergangenheit ist. Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive bilden eine Trias. Dafür Interesse zu wecken, ist eine vornehme Aufgabe.
MILIEU: Worin besteht der konkrete Nutzen von Public History gegenüber der herkömmlichen Geschichtswissenschaft?
Wolfrum: Es fing ja mit den Geschichtswerkstätten der 1980er Jahre an. Heute ist Geschichte zu einer Leitwissenschaft geworden, und über die gewonnenen Erkenntnisse, ihre Regeln und die Lehren, die wir daraus ziehen, muss man mit vielen ins Gespräch kommen. Ohne Reichweite läuft Aufklärung ins Leere.
MILIEU: Inwieweit muss und soll sich Deutschland als politischer Akteur heute von einer Erinnerungskultur leiten lassen?
Wolfrum: Kann anderes Land der Welt hat eine so differenzierte und kritische Erinnerungskultur wie Deutschland. Wir haben mit den Menschheitsverbrechen der Nazis auch allen Grund dazu. Mit der Vergangenheitsaufarbeitung dokumentiert die demokratische Gesellschaft täglich den Triumph über die Diktatur. Unsere Geschichte hat eine spezifische Kultur hervorgebracht, etwa Friedensmacht zu sein, Konflikte diplomatisch zu lösen. Das ist ja nicht schlecht. Andererseits muss man natürlich immer wieder aufpassen: Der Blick zurück in die Geschichte darf nicht blind machen für neue Herausforderungen in der Gegenwart und Zukunft.
MILIEU: Zuletzt noch eine Frage dazu, welche Rolle die Geschichte spielt. In diesem Zusammenhang hat Mahatma Gandhi einmal gesagt: „Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.“ Sehen Sie das auch so?
Wolfrum: So pessimistisch bin ich nicht. Menschen machen permanent Fehler. Viele Menschen sind geschichtsvergessen. Der große Basler Historiker Jacob Burckhardt meinte am Ende des 19. Jahrhunderts, dass Geschichte eine „Bildungsmacht“ sein, sie mache nicht klug für ein andermal, sondern weise für immer. Das würde ich bezweifeln. Aber ich würde den Satz einfach umdrehen. Mit dem Blick in die Geschichte können wir klüger werden gegenüber gegenwärtigen Problemlagen.
MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Wolfram!
Foto: Universität Heidelberg