Nach Hause
01.04.2022 -Diese Straße führt mich nicht in den Himmel, sie senkt sich auch nicht zur Hölle, diese Straße führt mich genauso wenig ins Nirgendwo, das Begehen auf dieser Straße führt mich einfach nach Hause. Nach Hause. Dort wo Milch und ein ungelesenes Buch auf mich warten. Besser gesagt, wartet nichts dergleichen auf mich. Die Milch würde einfach verderben und das Buch mit seinem Inhalt unbenutzt im Regal Staub ansetzen. Die Dinge gewinnen oftmals durch Benutzung eine persönliche Bedeutung. Die Milch gibt Wärme und das Buch Belehrung (wobei es ein Unterhaltungsroman ist, also wird es wohl eher eine angenehme Zerstreuung sein). Es sind vielleicht zwei Stunden bis ich zu Fuß zu Hause sein werde. Gewiss, ich könnte mit den öffentlichen Verkehrsmittel fahren, oder mir ein Taxi rufen, vielleicht auch ein Auto ausborgen, aber ich will gehen. Es wartet nichts auf mich. Wozu die Eile? Auch das Spazieren hat viel Schönes. Da ist die Bewegung an der Luft, da sind tausende kleinere und größere Eindrücke, und überhaupt, die Möglichkeit, dass irgendetwas schönes passiert, ist zweifellos gegeben. Vielleichteine unerwartete Begegnung, vielleicht etwas bemerkenswerteres in einer Auslage, oder einfach lachende und feiernde Gesichter in einem der unzähligen Restaurants, die man für kurze Augenblicke beim Vorbeigehen sieht. Ist alles möglich. Früher lag mein zu Hause westwärts von diesem Ausgangspunkt der Straße. Nun liegt es ostwärts. Dazwischen sind einige Umzüge gewesen.Die Gebäude der damaligen Wohnorte sind noch alle da. Nur die Menschen darin sind andere, sie wissen nichts von ihrem Vormieter und es ist ihnen auch einerlei. Sie haben die Wände vermutlich mit einer anderen Farbe ausgemalt und eine teurereKüchenplatte besorgt. Manchmal besuche ich alte Wohnorte in einem Traum und frage mich, ob es wahr ist. Kann es Wirklichkeit gewesen sein, habe ich wirklich dort gelebt und gewirkt? Ob das Sprechen und das Denken im Traum gar kein Traum ist, sondern eine Reise in eine gelebte Vergangenheit, in welcher man jederzeit bleiben kann? Ich fühle im Traum das Liegen auf der damaligen Couch, das Streicheln der jungen Katze, sehe und spüre die vielen Menschen, die damals Gast zu Hause gewesen sind, die gerade herzlich über etwas lachen, oder sich neuen Wein einschenken, oder eine Neuigkeit erzählen, die nun schon längst alt ist. Zu Hause. Das Enden einer Jugendzeit, das Kündigen eines Mietvertrages, das Übersiedeln in eine neue Wohnung, ist nicht immer mit einem Auszug beendet. Manchmal lebt man dort weiter, obwohl man gar nicht mehr in diesen vier Wänden anzutreffen ist. Selbst wenn Gebäude abgerissen werden, in der Erinnerung wird der eine oder andere Mauerstein, oder ein Stück vom Parkettboden bleiben. Zumindest in Verbindung mit vertrauten Menschen, die darauf lehnten, darauf standen. Sicherlich wird das jetzige zu Hause nicht mein letztes sein. Vielleicht wird es schöner, vielleicht auch ungemütlicher, vielleicht muss ich auch einmal unfreiwillig in ein Heim. Oder in ein Krankenhaus. Aber nun kommt mir ein klarer Gedanke: Das zu Hause ist kein Ort, sondern es ist in mir. Egal, ob meine aktuelle Adresse Ost oder Westwärts von diesem Punkt der Straße liegt, gleichgültig, was die Zukunft bringen mag, ich bin in mir zu Hause. Es ist oft ein warmer Ort, voller schöner Erinnerungen und es gibt viel Holz um das innere Feuer nachzulegen. Ich kann mir selbst Heimat und Vertrautheit sein. Manchmal, ja manchmal ist es kalt oder verwirrend hier drinnen, manchmal möchte ich mich am liebsten selbst hinauswerfen oder die Wohnung abbrennen, aber dann finde ich es viel zu Schade, um das alles zu verlieren. Ich bin meine Heimat, egal wo es mich noch hinbewegen mag. Ach, jetzt habe ich so oft das Wort "ich" und "mich" verwendet. Wir alle sind in vielem so gleich. Jeder hat sein "Steinbach", also einen vertrauten Ort der Kindheit, an dem er gerne ist, wenn es wie Steinbach dort grün und voller Natur riecht, umso besser. Jeder hat sein "Café Ritter", seinen vertrauten Ort, wo er Freunde und Freude teilt, jeder hat das Bedürfnis nach einem zu Hause. Vielleicht wird einer einmal in einer Wohnung nach mir leben, oder ich in einer alten Wohnung nach ihm.
Es ist jedoch egal, einerlei, denn letztendlich ist - egal wo man gerade wohnt oder auf welchen Straßen man sich befindet - das zu Hause, in einem selbst.