Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft
01.07.2021 -“Wenn man es genau nimmt, hat sich alles geändert, und es bleibt doch alles beim Alten”
Zitat vom Autor des nachfolgend besprochenen Buches (S. 324)
Im Vorwort präsentiert Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der Universität München, auf S. 8 die thematische Frage seines Buches: Warum konnte die Digitalisierung entstehen, warum ist sie offensichtlich für die Gesellschaft plausibel und warum ist sie so persistent? Nassehis Antwort (S. 28): Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und die Regelmässigkeit der Gesellschaft. In der Digitalisierung reflektiert die Gesellschaft in der Gegenwart zum dritten Mal über sich selbst, nachdem sie es in der nachrevolutionären französischen Aufklärung zum erste mal getan hat und zum zweiten Mal in der von Planungs- Gestaltungs- Fortschritts- und Wachstumsoptimismus geprägten Periode der 60er Jahre des vorherigen Jahrhundert.
In der Gegenwart entsteht nun also eine gesellschaftliche Selbst-Reflexion zur Digitalisierung. Deren Bezugsproblem ist die komplexe Regelmässigkeit der Gesellschaft selber (Nassehi spricht an anderer Stelle von einer “Dynamik der Geschlossenheit”) und die Nicht-Zufälligkeit des individuellen Verhaltens. Und der exorbitante Zuwachs an Daten, die die moderne ‘Gesellschaft generiert (und die “Datenkraken” wie z.B. Alphabet und Facebook zu steigender Profitmaximierung ausbeuten), ist keineswegs nur die Entdeckung eines neuen modernen Geschäftszweiges, sondern die Komplementarität zu einer hochkomplex gewordenen Gesellschaft. In den Daten, die sie ständig kreiert, die erfasst und größtenteils auch ausgebeutet werden, spiegelt sich der moderne gesellschaftliche Tatbestand wider.
Digitalisierung ist also kein Novum oder gar ein neuer Fetisch. Für Nassehi ist sie die konsequente Entsprechung der gesellschaftlichen Realität. Mittels Digitalisierung wird in den Daten die moderne Gesellschaft verdoppelt. Nach einem Ausflug in den theoretischen Rahmen von Niklas Luhman (Abschnitt “Codierung und Programmierung” ), wo Nassehi die Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft als Emanzipationsprozesse in allen Funktionssystemen der modernen Gesellschaft beschreibt, resümiert er die Aufgabe der moderne Gesellschaft: Das Verhältnis von Einfalt (dargestellt in binären Codes wie Zahlungen/Nicht-Zahlungen in der Wirtschaft oder Macht/Opposition in der Politik) und Vielfalt (Komplexität) erfolgreich zu adressieren. Genau dies tut die Digitalisierung, indem sie der Komplexität (von prinzipieller Grenzenlosigkeit) mit der elementar einfachen binäre Struktur von Null / Eins begegnet, und dies sowohl analytisch wie auch merkantil. Den endgültigen “Sieg” der Digitalisierung besteht dann darin, dass digitale Prozesse mit Erfolgresultat ohne irgend eine Sinnfrage erfolgen können und ohne das mühsame Herstellen von Konsens; über Ihren Erfolg entscheidet einfach, ob sie funktionieren (was sie meistenteils ja auch tun).
Im letzten Teil seiner Publikation beschäftigt sich Nassehi mit dem Internet als der prominenten Plattform der Digitalisierung indem er (S. 276) auf die eklatante Umkehrung des Verhältnisses von Sender und Empfänger hinweist: Von der alten klassischen Struktur (wenige Sender, viele Empfänger, einseitige Kommunikation, hochschwelliger Zugang, Professionalisierung der Sender) zur heutigen Situation im Web (viele Sender, viele Empfänger, niedrigschwelliger voraussetzungsloser Zugang zur Sendefunktion)
Den Abschluss des Buches bildet ein Plädoyer Nassehis für eine Soziologie, die genau diese neue, von ihm als dritte in der Geschichte der Selbstreflexionen der Gesellschaft vorgestellte Etappe in den Blick nehmen soll. Erst dann eröffnet sich die Möglichkeit angemessener Diskurse über die Chancen und Risiken digitaler Technologien.
Armin Nassehi verbindet seine Arbeit an diesem ja nicht gerade leichten Thematik erfreulicherweise immer wieder mit autobiografischen Hinweise, zum Beispiel wie er selber im Zeitalter der Digitalisierung aufgewachsen ist. Auch sein häufiger Ich-Stil mit der er Zusammenfassungen, Rückblicke und Vorausschau auf die nächsten Schritte der Abhandlung vornimmt, ist sehr leseeinladend und sicher auch einer überzeugenden Lehrtätigkeit des Autors zu verdanken.
Mitunter schleicht sich bei der Lektüre das Gefühl ein, Nassehi habe dort weitergemacht, wo Luhman in seiner “Die Gesellschaft der Gesellschaft” aufgehört hat und zwar dort nicht aus intellektuellem Unvermögen, sondern weil die digitalisierte Gesellschaft 1997 noch nicht den Durchbruch erreicht hatte wie 20 Jahre später. Immerhin hat Luhman verschiedentlich die Zukunft der Computerisierung schon damals deutlich im Blick gehabt.
Vielleicht sprengt es den Wahrnehmungshorizont des Buches aber weil Nassehis Blick zuweilen etwas Endgültiges anhaftet, sei doch die Frage gestattet, ob der Autor bei all der Entschlossenheit und Entschiedenheit seiner Argumentation nicht auch einen Blick auf eine mögliche Post-Digitale Gesellschaft werfen müsste, wobei dieses “Post’” keine Spekulation mit einem noch kühneren analytischen Konstrukt und noch feinziselierteren analytischen Kategorien sein müsste, sondern eine Reflexion auf das Ende von “Gesellschaft” schlechthin. Dass dies kein Defätismus sein muss, zeigen Publikationen wie unter anderem die eindrucksvolle, früher bereits in dieser Zeitschrift rezensierte von David Wallace-Wells: The Uninhabitable Earth. A Story of the Future. Natürlich wäre es unstatthaft in dieser Besprechung eine soziologische Analyse mit einem solchen Perspektivwechsel zu belasten, als latente Möglichkeit lässt sie sich jedoch nicht abweisen. Anknüpfen kann eine solche Überlegung immerhin an dem statement von Nassehi selbst (S. 184) wenn er Gedankenspielen mit einer “nächsten” Gesellschaft eine klare Absage erteilt. Wenn also keine nächste Gesellschaft - kann es sein dass uns vielleicht in nicht allzu ferne Zukunft das Ende von “Gesellschaft” wie wir sie bislang kennen, überhaupt bevorsteht? (ähnlich, wenn auch nicht so rigoros argumentiert z.B. Niklas Luhmann in seiner “Soziologie des Risikos”.)
Nassehis Buch ist kein Text, der zwischendurch mal überflogen werden kann. Der Autor mutet der/m LeserIn erhebliches an Konzentration und Aneignung eines sehr dichten theoretischen Bezugsrahmens zu. Aber wer dafür Geduld und Motivation mitbringt, wird viele Phänomene der gegenwärtigen digitalisierten Gesellschaft, die sie/er vielleicht zunächst ohne Zusammenhang oder sogar anscheinend chaotisch wahrgenommen hat, nun kohärenter und systematischer betrachten können. Hier gilt das gleiche wie für die auch nicht gerade leichten Theorieüberlegungen von Niklas Luhman: Je stringenter und profunder (und ja - durchaus - auch intellektuell anspruchsvoller) eine Theorie entwickelt wird (und zwar nicht als l'art pour lart), umso größer ist der damit einhergehende Erkenntnisgewinn.
Nassehi ist das Erarbeiten einer äußerst eindrucksvollen Theorie der Digitalisierung gelungen, die jeder/m empfohlen werden kann, die/der sich von dem allseitigen, mitunter recht aufgeregten Geräuschpegel zum Thema Digitalisierung in talkshows oder flachen Feuilleton-Kommentaren emanzipieren will und wirklich systematisch in das Thema eindringen möchte.
Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. 352 Seiten. 2021. C.H. Beck Verlag 16,- €