Menschen ohne Mitte
01.04.2023 -Eine gefestigte Identität wäre ein wirksamer Schutz gegen Fremdinteressen, die uns schaden können.
Wie entwickeln wir ein Selbstbewusstsein, das Identität stiftet, selbst wenn wir in einer Massengesellschaft leben und von ihren Zwängen bedrückt werden? Existenznöte und das Bedürfnis, zu einer Gruppe zu gehören, überlagern allzu oft die wirkliche Beschäftigung mit dieser Frage ― und verhindern so die echte Menschwerdung. Eines ist klar: Die Lösung liegt nicht im Materialismus, denn der Besitz von Dingen kann immer nur kurzfristig und illusorisch die Lücke einer geformten und gefestigten Identität füllen. Jugendredakteurin Lilly Gebert begibt sich mit Erich Fromm auf eine philosophische Suche nach den Bedingungen der persönlichen Freiheit.
„Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat.“
― Martin Heidegger, Sein und Zeit
Masse oder Mensch? Während die einen sie als Sicherheit empfinden, nehmen die anderen ihre Gegenwart als Bedrohung wahr. Wie kann das sein? Wieso fühlt sich die eine wie auch die andere Seite im Wissen um die Existenz des jeweiligen Gegenübers in seiner eigenen bedroht? Weshalb können beide ― Individuum wie Masse ― nicht ohneeinander existieren und gehen doch aneinander zugrunde? Gibt es Existenzialien, grundlegende Gefühle des Menschseins, die sich nur im Alleingang leben lassen? Wie kann ein Mensch so wenig in sich selbst gefestigt sein, dass er sich in seinem eigenen Sein angegriffen fühlt, alsdann dieses auch nur im leisesten Kontrast zu dem seiner Umwelt steht? Wann haben wir verlernt, an Differenz zu wachsen?
Menschen ohne Mitte
Die „Identitätskrise“ moderner Gesellschaften führte Erich Fromm bereits 1979 in Haben oder Sein auf die Selbst-Losigkeit ihrer Mitglieder zurück: „Sie haben ihr großes, sich ständig wandelndes Ich, aber keiner von ihnen hat ein Selbst, einen Kern, ein Identitätserleben (…) Wo kein echtes Selbst existiert, kann es auch keine Identität geben“ (1). Ohne Bewusstsein über und Vertrauen in sein eigenes Selbst sei der Mensch, so Fromm, sowohl von sich als auch seiner Umwelt entkoppelt. Er glaube weder an das, was er ist, noch an das, was ihn umgibt. Dort, wo einst Interesse, Liebe und Solidarität zugegen waren, herrsche nun das Verlangen, „zu haben, zu besitzen und die Welt zu beherrschen und so zum Sklaven des eigenen Besitzes zu werden“.
Der ausschließlich am Haben orientierte Mensch besitze damit „weder Überzeugungen noch echte Ziele“. Anders als der am Sein Orientierte, der aus „einer inneren Aktivität“ heraus lebe und dessen „humanistische Religiosität“ „sich gegen jede Art der Verdinglichung, Berechenbarkeit und Vergötzung des Menschen richtet“, sei „der am Haben Fixierte von einer eigenartigen Passivität bestimmt“:
Indem er seine Selbstentwicklung, den Sinn seines Daseins nicht mehr in der Differenz, sondern in der Konformität zu seiner Umwelt zu verwirklichen sucht, verfehlt er sich selbst.
Er „ist Betrieb geworden, muss funktionieren und sich verwerten lassen“. Im immerwährenden Kampf gegen den drohenden Selbstverlust flieht er in einen narzisstisch geprägten Aktivismus. Sein Identitätsgefühl zielt fortan nicht mehr darauf ab, in einen lebendigen, produktiven Austausch zwischen sich und seiner Mitwelt zu treten ― das zunehmende Erlebnis innerer Leere zwingt ihn, sein fehlendes Selbst- und Subjektsein durch das Haben von Objekten zu kompensieren.
Egal wie sehr er es damit jedoch zu verdrängen gesucht: Der Mensch hat panische Angst vor dem Alleinsein. Er kann die Isolation nicht ertragen. Als soziales Wesen ist er darauf angewiesen, auf die Welt außerhalb seiner selbst bezogen zu sein. Nicht sein Wunsch nach Kooperation, sondern sein zwingendes Bedürfnis, seelische wie körperliche Vereinsamung zu vermeiden, treibt ihn in die Arme seiner Mitmenschen (2). Er braucht zumindest das Gefühl von Identität und Zugehörigkeit. Insofern er aber nicht imstande ist, dieses in sich selbst zu verorten, bleibt ihm nichts anderes übrig, als der von ihm als Last empfundenen Freiheit zu entfliehen und sein Ich-Gefühl in etwas zu begründen, das außerhalb seiner eigenen Verantwortung liegt: dem Wir-Gefühl.
Im Wir glauben wir etwas zu fühlen, „was wir in Wirklichkeit gar nicht fühlen ― einfach weil wir uns danach richten, was uns durch die öffentliche Meinung oder Ähnliches suggeriert wird“. Wir hören auf, wir selbst zu sein, und werden zu einem Abbild dessen, was unsere Umgebung uns als „richtig“ und „akzeptiert“ vermittelt. Die Diskrepanz zwischen unserem „Ich“ und der Welt verschwindet und damit auch die bewusste Angst vor dem Alleinsein (3).
„All unser Übel kommt daher, dass wir nicht allein sein können.“
― Arthur Schopenhauer
Zwischen Fremdbestimmung und Selbstaufgabe
„Wir wissen nicht, aber wir können es ahnen, wie viele Menschen sich in Erkenntnis ihrer wachsenden Unfähigkeit, die Last des Lebens unter modernen Verhältnissen zu ertragen, sich willig einem System unterwerfen würden, das ihnen mit der Selbstbestimmung auch die Verantwortung für das eigene Leben abnimmt.“
― Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge
Betrachtet man die zunehmende Zerrissenheit in und zwischen den Menschen, lässt das ebenso anwachsende Machtgefälle zwischen Bürger und Staat darauf schließen, dass es ― anders als die Psychoanalyse lange zu wissen glaubte ― nicht an der widersprüchlichen Natur des Menschen liegt, der Gesellschaft Schwierigkeiten zu bereiten, sondern es andersherum die Gesellschaft ist, die gelernt hat, sich dadurch zu stabilisieren, das verborgene Innere ihrer Mitglieder nicht zum Vorschein treten zu lassen. Ihr neugewonnener „Individuationsprozess“ mag sie von ihren traditionellen Fesseln befreit und zu ihrer Unabhängigkeit und Rationalität beigetragen haben; er hat sie aber auch isoliert und damit ängstlich und ohnmächtig gemacht (4).
Die Bedingungen dafür, dass der Einzelne mehr oder weniger freiwillig in der Masse auf- und unterzugehen vermag, sah Erich Fromm erstmals im Protestantismus und dem kompensatorischen Glauben Martin Luthers und Johannes Calvins begründet: Nachdem die mittelalterliche Gesellschaft, in welcher jeder Bürger seine feste Rolle hatte und alles Leid und aller Schmerz durch die Kirche kompensiert wurde, mitunter durch ihre Thesen zusammenbrach, hörte der Mensch nicht nur auf, die Kirche als Bindeglied zwischen sich und Gott zu sehen; er sah sich auch nicht mehr als fest eingebundenes Mitglied innerhalb eines Sinngefüges.
Indem die darauffolgende Existenznot der Mittelklasse (5) in den Menschen Gefühle der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht auslöste, erschien es der Mehrheit der ― mit ihrer plötzlichen Exponiertheit gegenüber Gott überforderten ― Bevölkerung als unausweichlich, von nun an Sicherheit und Heil darin zu suchen, „ihr isoliertes Selbst auszuschalten und zu einem Werkzeug in den Händen einer überwältigend starken Macht außerhalb ihrer Selbst zu werden“ (6).
In Die Furcht vor der Freiheit bezeichnete Fromm diese Bereitschaft des Einzelnen, „nichts anderes sein zu wollen, als ein Mittel zur Verherrlichung eines Gottes, der weder Gerechtigkeit noch Liebe repräsentierte“ (7), nicht nur als Vorbereitung dazu, „die Rolle des Dieners einer Wirtschaftsmaschinerie zu akzeptieren“ (8) ― in der „Verzweiflung des automatenhaften Konformisten“ sah er gleichzeitig den Nährboden für die politischen Ziele des Faschismus (9): Insofern die im Protestantismus verankerte Selbstverleugnung und asketische Einstellung den Menschen dazu drängte, „sein Leben ausschließlich Zwecken unterzuordnen, die nicht seine eigenen waren“ (10), war dessen religiöse „Freiheit“ für ihn nichts weiter als ein weiterer Vorläufer jenes falschen Individualitätsgefühls, das wenige Jahrhunderte später vom Kapitalismus, als auch seiner Steigerungsform, dem Totalitarismus, erneut befeuert wurde:
„Der einzelne Mensch wurde noch einsamer, noch isolierter und wurde zum Werkzeug in den Händen überwältigender starker Kräfte außerhalb seiner selbst; er wurde zum ‚Individuum‘, jedoch zu einem verwirrten und unsicheren Individuum. Es gab Dinge, die ihm halfen, über die offen zutage liegenden Manifestationen dieser inneren Unsicherheit hinwegzukommen. Vor allem war der Besitz eine Stütze seines Selbst (…) Je weniger er das Gefühl hatte, jemand zu sein, umso dringender brauchte er Besitz“ (11).
Kurzum: Das innere Nicht-Sein moderner Gesellschaften bedingt sich durch ihre Verkehrung ins Außen. Solange der Mensch im Kollektiv aufzugehen oder sich anhand von Dingen einen Wert zuzuschreiben vermag, muss er seinem Leben nicht selbst einen Sinn verleihen. Was aber, wenn es gerade „die Präsenz dieser Leerstelle“ (12) sein sollte, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleistet?
Das Doppelgesicht der Freiheit
Das Ende monarchistischer Herrschaft, die Aufklärung und ihre Dezentralisierung von Wissen und Information: Der „moderne“ Mensch ist davon überzeugt, er habe sich seine Freiheit erkämpft. Dabei hat er nur neue Bedingungen für dieselben Zwänge geschaffen: Was früher dem offenen persönlichen Gehorsam gegenüber einem Führer galt, gebührt nun der Unterwerfung unter die Organisation. Was sich änderte, war nicht die Tatsache der Abhängigkeit, sondern ihre Form. Bis heute ist der Mensch nicht in der Position, seine Freiheit auch dahingehend umzusetzen und zu nutzen, sein wahres Selbst zu entfalten. Und dennoch lebt er in dem Glauben, keinen äußeren Autoritäten mehr unterworfen zu sein.
Er ist stolz darauf, ein mündiger Bürger zu sein. So stolz, dass er verkennt, welche Macht anonyme Autoritäten wie die öffentliche Meinung oder sein „gesunder Menschenverstand“ auf ihn ausüben.
Durchaus bereit, sich entsprechend ihren Erwartungen zu verhalten, spürt er nicht, dass es in Wahrheit keine innere Überzeugung, sondern seine eigene Angst ist, die ihn daran hindert, sich von ihnen zu unterscheiden.
Diese Unfähigkeit, zu erkennen, dass das „Selbst“, für das er glaubt zu handeln, schlussendlich das „gesellschaftliche Selbst“ ist, welches „sich im Wesentlichen mit der Rolle deckt, die der Betreffende nach dem, was die anderen von ihm erwarten, zu spielen hat und die in Wirklichkeit nur eine subjektive Tarnung seiner objektiven Funktion in der Gesellschaft ist“ (13), beschreibt Erich Fromm wie folgt:
„Wir sind von der Zunahme unserer Freiheit von Mächten außerhalb unserer selbst begeistert und sind blind für die inneren Zwänge und Ängste, die die Bedeutung der Siege, welche die Freiheit gegen ihre traditionellen Feinde gewonnen hat, zu unterminieren drohen. Daher neigen wir zu der Meinung, es gehe bei dem Problem der Freiheit ausschließlich darum, noch mehr von jener Freiheit zu erwerben, die wir bereits im Verlauf der neueren Geschichte gewonnen haben, und wir hätten weiter nichts zu tun, als die Freiheit gegen all jene Mächte zu verteidigen, welche uns diese Art der Freiheit versagen wollen.
Wir vergessen, dass zwar jede Freiheit, die bereits errungen wurde, mit äußerster Energie verteidigt werden muss, dass aber das Problem der Freiheit nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives ist; dass wir nicht nur die traditionelle Freiheit zu bewahren und zu erweitern haben, sondern dass wir uns auch eine neue Art von Freiheit erringen müssen, die uns in die Lage versetzt, unser individuelles Selbst zu verwirklichen und zu diesem Selbst und zum Leben Vertrauen zu haben“ (14).
Trotz seiner Entwicklung eines kritischen und verantwortungsbewussteren Selbst habe der Mensch, so Fromm, nie die Stufe erreicht, auf welcher er dazu in der Lage wäre, die Kluft zwischen der „Freiheit von etwas“ und der „Freiheit zu etwas“ zu erkennen, geschweige denn sie auch zu überwinden. Indem er nie gelernt habe, sich von seinen primären Bindungen auf gesunde Weise zu emanzipieren und infolgedessen seinen inneren Kompass anhand seiner eigenen Werte zu kalibrieren, bleibe jener eben Zeit seines Lebens auch anfällig für Fremdausrichtungen, beispielsweise in Form zwanghafter Konformität oder der Unterwerfung unter einen Führer. Für Fromm war klar:
„Das Recht der Gedankenfreiheit bedeutet nur dann etwas, wenn wir auch fähig sind, eigene Gedanken zu haben. Die Freiheit von einer äußeren Autorität ist nur dann ein dauernder Gewinn, wenn unsere inneren psychologischen Bedingungen derart sind, dass wir auch in der Lage sind, unsere Individualität zu behaupten“ (15).
Die Gefahren sinnentleerter Selbstüberlassenheit
„Die ernste Gefahr für unsere Demokratie besteht nicht in der Existenz totalitärer fremder Staaten. Sie besteht darin, dass in unseren eigenen persönlichen Einstellungen und in unseren eigenen Institutionen Bedingungen herrschen, die der Autorität von außen, der Disziplin, der Uniformität und Abhängigkeit vom Führer in diesen Ländern zum Sieg verhelfen. Demnach befindet sich das Schlachtfeld hier ― in uns selbst und in unseren Institutionen.“
― John Dewey, Freedom and Culture
Aus Ermangelung eines wahren Freiheitsgefühls flieht der Mensch vor sich selbst und unterwirft sich einer äußeren Autorität, dessen Definition von „Freiheit“ er dann für seine eigene hält. Ein eigentlich sehr einfaches ― wenn auch trauriges ― Spiel: Ein Mensch, der nur unter dem Druck äußerer Notwendigkeiten arbeitet, käme zu schnell an den Punkt innerer Ausgelaugtheit. Weil er sich selbst noch spürt, würde er gegen die Zumutung des Verzichts rebellieren und sich seinem Repressor gegenüber widersetzen. Er könnte den inneren Widerspruch auf Dauer nicht ertragen und würde Mittel und Wege finden, wie er das, was seiner Auffassung nach eher seinem Wesen entspräche, in die Tat umsetzen könnte.
Für das repressive System eine inhärente Unmöglichkeit: Sind Verzicht und Gehorsam für dieses unentbehrliche Strukturelemente, gilt es ― um die für sinnvoll gehaltene Notwendigkeit und ihr Bild der Alternativlosigkeit aufrechtzuerhalten ― im Menschen eine innere Notwendigkeit zu erzeugen. Dieser müsse dazu veranlasst werden, sich fortan aus einer inneren Dynamik heraus den „gesellschaftlichen Erfordernissen“ zu widmen und „sich den besonderen ökonomischen Notwendigkeiten entsprechend zu verhalten“. Einen solchen Menschen muss man nicht mehr zwingen, möglichst hart zu arbeiten: Indem er seinen Gehorsam gegenüber einer äußeren Autorität durch „eine innere Autorität in Gestalt von Gewissen und Pflicht“ ersetzt hat, wird er fortan durch „einen inneren Zwang zur Arbeit getrieben“, der „ihn wirksamer unter Kontrolle hält, als das eine äußere Autorität jemals vermöchte“ (16).
Es war Bruno Bettelheim, der ― ebenso wie Erich Fromm ― untersuchte, wie der immer weitere Lebensbereiche umfassende Zwang und die moderne „Automatisierung des Individuums“ nicht nur dessen Unsicherheit und Hilflosigkeit verstärkte, sondern zugleich auch zu seiner Bereitschaft beitrug, „sich neuen Autoritäten zu unterwerfen, die ihm Sicherheit anbieten und seine Zweifel mindern“ (17). Folglich sah er das „Gefühl, nicht so recht zu wissen, wer man eigentlich ist, das Empfinden, in seiner Autonomie beschränkt zu sein“, in der modernen Massengesellschaft dadurch begründet, dass
- sie es dem Einzelnen erschwert, eigene Maßstäbe für sein Leben zu entwickeln und nach ihnen zu leben,
- ihre Vielzahl an Möglichkeiten in ihm das Gefühl erwecken, „dass es nicht so wichtig ist, welchen Weg er wählt, und dass es daher nicht nötig ist, die Fähigkeit zu entwickeln, diesen Weg konsequent zu verfolgen“,
- sie ihm „die Illusion größerer Freiheit“ suggeriert und dadurch Enttäuschung, Scheitern oder Misserfolg nur noch größeren Schaden verursachen,
- ihr Aufgebot an Möglichkeiten nicht nur die Qual der Wahl, sondern auch ihre Unmöglichkeit darstellt,
- sie keine Leitbilder vermittelt, die dem Einzelnen dabei helfen, seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen und auf die ihrige Weise zu erfüllen (18).
Ein dementsprechend durch die Massengesellschaft sozialisierter Mensch werde, so Bettelheim, nie lernen, seine Probleme eigenständig zu erkennen, geschweige denn selbst zu lösen. Er ist daran „gewöhnt, in fast allem, was er tut, von der Gesellschaft angeleitet zu werden“. Je weniger er fähig ist, zu erkennen, dass seine inneren Konflikte „durch den Gegensatz zwischen seinen eigenen Wünschen und den Forderungen der Umwelt entstehen, um so mehr erwartet er von der Gesellschaft, dass sie ihm mit den Problemen, die sie ihm stellt, zugleich deren Lösung liefert“ (19). Für Bettelheim ein Teufelskreis: Wer sich erst einmal daran gewöhnt habe, äußere Entscheidungen von anderen treffen zu lassen, werde dies alsbald auch auf seine inneren Probleme ausdehnen. Und wer nicht mehr in der Lage sei, spontan und autonom auf die Launen des Lebens zu reagieren, der sei auch bereit, „kritiklos hinzunehmen, was andere ihm als Lösung anbieten“ (20).
Konfrontiert mit den eigenen Existenzängsten bleibe dem „Individuum“ keine andere Wahl, als darauf zu hoffen, „dass die Mächtigen es schon richtig machen werden“.
Außerstande, sein eigenes Gewissen am eigenen Selbst oder der eigenen Vernunft zu orientieren und daran gehindert, an der Entscheidung über Dinge mitzuwirken, die für ihn von großer Bedeutung sind, untergräbt das Gefühl vollkommener Abhängigkeit nicht nur seine Selbstachtung, es intensiviert auch seine Ohnmacht ― das Gefühl, „auf Gedeih und Verderb Mächten ausgeliefert zu sein, die der Mensch nicht verstehen oder zumindest in keiner Weise beeinflussen kann“ (21). Die Masse triumphiert über den Einzelnen. Erneut.
Aber wie lange noch?
Das ist die Frage. Luther mag es gelungen sein, mit seiner uneingeschränkten Gottesunterwerfung seine Zweifel bis zu einem gewissen Grade zum Schweigen zu bringen. Die Wurzeln seines Zwiespaltes konnte er anscheinend jedoch nie beseitigen: Bis zu seinem Lebensende fiel er immer wieder neuen Unsicherheiten anheim, die er dann durch erneute Unterwerfung bekämpfen musste (22).
Was aber ist das für ein Glaube, der einen im ewigen Kampf mit sich und der Welt zu halten vermag? Kann Freiheit auch zu einer Last werden, die den Menschen so schwer bedrückt, dass er ihr zu entfliehen versucht? Gibt es einen unvermeidlichen Teufelskreis, „der von der Freiheit in eine neue Abhängigkeit hineinführt? Macht die Freiheit von allen primären Bindungen den Menschen so einsam und isoliert, dass er unausweichlich in eine neue Knechtschaft hinein fliehen muss? Sind Unabhängigkeit und Freiheit gleichbedeutend mit Isolierung und Angst?
Oder gibt es einen Zustand der positiven Freiheit, in dem der einzelne Mensch als unabhängiges Selbst existiert und trotzdem nicht isoliert ist, sondern mit der Welt, mit den anderen Menschen und mit der Natur vereint ist?“ (23). Ich frage mich: Wann hören wir auf, „der Last der Freiheit“ zu entfliehen und gelangen von der negativen zur positiven, kurzum, zu unserer eigenen Freiheit?
Quellen und Anmerkungen:
(1) Fromm, Erich: Haben oder Sein. die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Deutscher Taschenbuch-Verlag Stuttgart 1979, Seite 147 folgende.
(2) Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit. Deutscher Taschenbuch-Verlag Stuttgart 2000, Seite 24 und folgende.
(3) Ebenda, Seite 182.
(4) Ebenda, Seite 7; 108 folgende.
(5) Ebenda, Seite 287.
(6) Ebenda, Seite 80.
(7) Ebenda, Seite 111 folgende.
(8) Ebenda.
(9) Ebenda, Seite 248.
(10) Ebenda, Seite 111 folgende.
(11) Ebenda, Seite 121.
(12) Richard Herzinger: Republik ohne Mitte. Ein politischer Essay. Siedler Verlag Berlin 2001, Seite 7.
(13) Fromm, Erich (2000), Seite 117.
(14) Ebenda, Seite 106.
(15) Ebenda, Seite 233.
(16) Ebenda, Seite 274 folgende.
(17) Ebenda, Seite 200 folgende.
(18) Bettelheim, Bruno: Aufstand gegen die Masse. die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft. Fischer-Taschenbuch-Verlag Frankfurt am Main 1989, Seite 86 folgende.
(19) Ebenda, Seite 89.
(20) Ebenda, Seite 87 folgende.
(21) Ebenda, Seite 95.
(22) Fromm, Erich (2000), Seite 80.
(23) Ebenda, Seite 249.
Erstveröffentlichung: rubikon.news
Lilly Gebert, Jahrgang 1998, zerbricht sich gerne ihren Kopf. Sei es darüber, wie man in einem System, das auf Unmenschlichkeit beruht, die Menschlichkeit bewahren kann oder wie sich diese in Zeiten von Technokratie und Entfremdung überhaupt noch bemessen lässt. Da sie weiß, wie schnell sich der Blick in die Welt mit einer Zeitung versperren lässt, versucht sie auf ihrem Blog „Treffpunkt im Unendlichen“ Klarheit in die geistige Umnachtung unserer Zeit zu bringen.