Rezension

Mäßigung: Was wir von einer alten Tugend lernen können

01.11.2018 - Nikolai Luber

"Die Mäßigkeit dient dazu, jene Kühle und Klarheit des Kopfes sich zu verschaffen, welche durchaus unerläßlich ist, wo man beständige Wachsamkeit beobachten und auf der Hut sein muß gegen die unermüdliche Anziehungskraft alter Gewohnheiten und die Gewalt beständiger Versuchungen." - Benjamin Franklin

 

Wenn ein Buch im Titel gleich mit zwei altertümlich klingenden Begriffen „Mäßigung“ und „Tugend“ aufwartet, so mag mancher Leser auf einen angestaubten Inhalt schließen. Doch gleich in den ersten Sätzen des Vorworts macht der Autor Thomas Vogel deutlich, dass es ihm um die Gegenwart geht, genauer: um unseren gegenwärtigen Lebensstil. Dessen Ende sieht Vogel gekommen und stellt uns vor die Wahl, ob wir der Natur das Beenden überlassen – „schmerzhaft und verlustreich“ -  oder ob wir selbst erkennen, dass wir diesen Lebensstil beenden und uns mäßigen müssen. Mag der Leser diese harte, ja apokalyptisch klingende Einleitung im ersten Reflex zurückweisen, so verdeutlicht der Autor in den ersten drei Kapiteln das Ausmaß unserer Maßlosigkeit an erschreckend vielen, drastischen Zahlen und Beispielen. Das Fazit: Wir haben schon seit geraumer Zeit das rechte Maß, ja eigentlich jegliches Maß verloren. Anstelle des rechten Maßes ist in unserer Gesellschaft das „Mehr“ getreten: Mehr Konsum, mehr Produktion, mehr Wachstum. Diese zwanghafte Maßlosigkeit hat fatale Folgen. Vogel unterscheidet globale Folgen wie Zerstörung von Natur, Vernichtung von Ressourcen, Ausbeutung von Kinderarbeitern etc. und individuelle Folgen wie steigender Zeitdruck, Angst, etwas zu verpassen, explodierende Zahl psychischer Erkrankungen etc.

Nach diesen Kapiteln ist klar, was wir eigentlich schon wissen: Wir leben weit über unsere Verhältnisse, wir leben maßlos. Und wir ahnen: Mäßigung ist alternativlos. Aber: Können wir das überhaupt – uns mäßigen? Dieser Frage widmet sich das vierte  Kapitel. Zusammen mit dem fünften: „Maß und Mäßigung in Philosophie und Religion“ ist es anspruchsvolle, wissenschaftliche Kost. Hier wird deutlich, dass das Buch aus einer Vorlesung des Autors an der pädagogischen Hochschule Heidelberg entstanden ist. Wer erwartet, dass Vogel die Frage, ob der Mensch überhaupt zur Mäßigung fähig ist, eindeutig beantwortet, wird enttäuscht. Vielmehr stellt der Autor fünf verschiedene Sichtweisen dar, die im Ergebnis dazu neigen, dass der Mensch sich aus unterschiedlichen Gründen nicht mäßigen kann. Sei es, dass die Evolution den Menschen zum Sammeln von Vorräten prädestiniert hat oder die Angst vor dem Tod Ursache für die Gier des Menschen ist: Zwar macht Maßlosigkeit den Menschen auch nicht zufrieden, aber sie scheint dem Menschen eher eigen, als die Fähigkeit zur Mäßigung.

Zuversichtlicher stimmt die Philosophie. Hier wird Mäßigung als Kardinaltugend verstanden, verbunden mit Besonnenheit und Weisheit, und als Fundament eines gelingenden Lebens. Auch im Christentum findet Vogel viele Verbindungen zur Mäßigung. Das reicht bis in die Gegenwart – Vogel zitiert Papst Franziskus und seine „Laudato si‘“, in der er die zerstörerische Maßlosigkeit des Kapitalismus anprangert. Bei den anderen Weltreligionen wirken die von Vogel herausgearbeiteten Verbindungen etwas gewollt, wenn er zum Beispiel die Gewaltlosigkeit im Hinduismus als der Mäßigung eng verbundenes Prinzip identifiziert. Bei der Darstellung von Mäßigung in Diskursen der Neuzeit kann sich Vogel ein paar Seitenhiebe nicht verkneifen: Das Konzept der Suffizienz sieht er als überflüssig an, den Minimalismus als Modetrend. Die harsche Abgrenzung des Autors zu Ideen anderer, die seinen eigenen ähneln aber anders heißen, wirkt ein wenig rechthaberisch.

Anknüpfend an das vierte Kapitel stellt Vogel im sechsten die Frage, warum uns Mäßigung so schwer fällt. Die Antwort findet er in unserem Wirtschaftssystem. Dafür zitiert unter anderem Marx über mehrere Seiten. Das ist etwas ermüdend, aber die Argumentation ist bestechend: Ursprünglich war der Sinn der Wirtschaft, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Heute ist es der Sinn des Menschen, die Wirtschaft zu befriedigen, das heißt am Leben zu erhalten, indem er immer mehr, immer öfter, immer teurer kauft. Produzierte Güter sind von Gebrauchs- über Verbrauchs- zu Wegwerfdingen geworden, die in immer rascherer Folge von uns Konsumenten gekauft und so schnell wie möglich wieder durch neue Güter ersetzt werden. Diese Analyse erschrickt den Leser und lässt ihn mit einem Gefühl von Ertappt Sein und Hilflosigkeit zurück. So stellt sich immer drängender die Frage: „Was kann ich tun? Wie können wir uns ändern“? Auf diese Fragen versucht der Autor in den letzten drei Kapiteln eine Antwort zu finden, insbesondere in Kapitel neun „Können wir Mäßigung lernen?“. Vogel stellt verschiedene Ansätze vor wie Selbsterkenntnis, Entwicklung von Moral und Ethik, ästhetische Bildung oder die Stärkung der Person. Im Ergebnis führen die verschiedenen Ansätze in die gleiche Richtung: Mäßigung lässt sich nicht lernen oder lehren wie ein Schulfach. Auch ist sie weder einfach noch schnell zu lernen. Sie lässt sich erlernen durch Techniken der Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung, die schließlich zur Selbstbefreiung führen: Zur Befreiung von Konsumzwang und Kaufsucht. Das gelingt, indem wir unser Verhalten und unsere Bedürfnisse reflektieren und so Schritt für Schritt, zu einem rechten Maß finden, das wir selbst bestimmen statt einer Maßlosigkeit, die das System bestimmt.

Die Lektüre des Buches ist weder leicht noch bietet der Autor einfache Lösungen an. Stattdessen stellt es uns Fragen, die vor allem das eigene Verhalten, die eigene Einstellung, das eigene Selbst betreffen. Das mag zunächst unbefriedigend sein. Aber es sind solche Fragen, die zu Selbsterkenntnis führen können und damit zu Verhaltensänderung. Die auf den ersten Blick altertümlich anmutende Tugend der Mäßigung bietet einen Lösungsansatz für die große Herausforderung unserer Zeit. Und die von Vogel dargestellten Ansätze aus Philosophie und Religion zeigen Wege, wie wir das rechte Maß finden können.

Thomas Vogel ist ein wertvolles Buch gelungen, dessen Lektüre uns nachdenken lässt: Ob die Welt so sein muss, wie sie ist und ob wir weiter so leben wollen, wie wir (noch) leben. Oder ob wir uns von unseren Konsumzwängen befreien, uns mäßigen und so der Welt weniger Schaden zufügen und unserem eigenen Leben wieder mehr Sinn geben.

 



Thomas Vogel – Mäßigung: Was wir von einer alten Tugend lernen können. Oekom Verlag, München 2018, 192 Seiten, 17 Euro, ISBN: 978-3962380656


 

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