Machst du noch Party, oder feierst du schon?
15.11.2016 -Über die Kunst, Weihnachten und andere Feste würdig zu begehen. „Die Leute kommen, um zu feiern“, sagt Gerlinde S. „Um was zu feiern?“, will ich wissen. „Zu feiern eben, einfach so“, lautet die Antwort der Gastwirtin. Die Szene ist das Örtchen Willingen im Sauerland. Bekannt für seine Skisprung-Schanze; noch bekannter aber als „Mallorca des Nordens“ oder „Party-Paradies“.
Hierhin pilgern junge Leute, meistens junge Männer aus dem nahen Ruhrgebiet, um das zu tun, was man heute „feiern“ nennt: zu trinken, tanzen, Spaß zu haben. Und alles das im großen Maßstab.
Solches geschieht nicht nur in Willigen. „Gefeiert“ wird in Clubs und Discos überall im Lande, gefeiert wird bei zahllosen Oktoberfesten, Schützenfesten, Volksfesten jedweder Couleur. Gefeiert wird auf Malle oder im Vereinsheim. Und immer fließen dabei Ströme Alkohols; und meistens wird es dabei laut und lustig. Party-Laune allenthalben. Man feiert eben, einfach so.
Ist etwas schlecht daran? Wohl kaum, denn was ist schlecht daran, wenn sich die Menschen amüsieren? Schlecht wird es allenfalls, wenn sie sich – wie Neil Postman über die Kultur des Westens sagte – irgendwann zu Tode amüsieren. Aber bis dahin ist es – Komasaufen ausgenommen – doch ein weiter Weg. Und trotzdem nagt in mir ein Unbehagen, wenn ich jenen Kult des Feierns sehe, dem in Willingen und anderswo gehuldigt wird. Das Unbehagen rührt aus der genannten Frage, die ich jener Gastwirtin einst stellte: „Was feiern diese Leute eigentlich?“
Die Frage ist ja nicht ganz abwegig. Die deutsche Sprache legt es nahe, auf das Verbum „feiern“ ein Akkusativ-Objekt folgen zu lassen: „Weihnachten“ etwa, oder „Geburtstag“ oder „Hochzeitstag“. Es gibt reichlich Dinge, die man feiern kann. Und folglich hat die Menschheit auch an Feiern nicht gespart. Der kirchliche Festkalender des 17. Jahrhunderts wies in Südeuropa pro Jahr zuzüglich zu den regulären Sonntagen bis zu 90 Feiertage aus, im antiken Athen dürften es deutlich über hundert gewesen sein.
Doch unterschieden sich die Feiern der Altvorderen in jeder Hinsicht von den Feiern, die im Partyzelt abgehen. Denn immer gab es einen Grund zur Feier: Man feierte Athene oder den Dionysos. Man feierte Lokalheilige oder die großen Festtage des Kirchenjahrs. In jedem Fall waren die Feiern rückgebunden an etwas Besonderes, woran der Mensch sich freuen konnte. Die Feier öffnete den Raum, worin etwas geschah, was sich im Englischen gut formulieren lässt: to lift the spirit – der Geist wurde gehoben. Begeisterung fand stand – und zwar weil man nicht einfach um des Feierns oder Trinkens willen feierte, sondern um etwas Größeres, Bedeutendes zu würdigen.
Das ist bei jenem sonderbaren Feierkult der Gegenwart ganz anders. Was dort geschieht, wo Menschen „eben feiern, einfach so“, ist gar kein Feiern, sondern Unterhaltung. Das Wort, das dafür passt, ist Party. Doch eine Party ist noch lange keine Feier, solange ihr der Grund und Gegenstand fehlt. Die Party feiert man alleine um der Party willen. Und eben deshalb bleiben Partys flach. Sie haben keine Tiefe, keinen Sinn. Sie heben nicht den Geist. Sie enden maximal im Rausch, jedoch so gut wie nie in der Begeisterung.
Dass es auch anders geht, verrät ein Blick in die Vergangenheit. Beim alten Platon findet man in seinem Dialog über die „Gesetze“ eine philosophische Diskussion der Feierform des „Trinkgelages“ – des symposions. Ein namenloser Gastfreund aus Athen versucht dabei den sittenstrengen Spartaner Megillos davon zu überzeugen, wie wichtig für die Kultur eines Gemeinwesens das – nach allem was wir wissen – durchaus feuchtfröhliche, ja ekstatische Spektakel eines Symposions ist. „Es wärmt die Seele und beflügelt die Gedanken“, so der Athener; das aber nur – und darauf kommt es an – wenn klar ist, dass es sich dabei um eine Kultfeier zu Ehren eines Gottes handelt.
Am Anfang jedes Trinkgelages habe daher stets die Anrufung des Gottes zu erfolgen. Auf diese Weise wird die Rückbindung an jene Tiefe hergestellt, um derentwillen dieses Fest gefeiert wird. Bei näherer Betrachtung ist es eine Kultveranstaltung; und dieser Charakter wird durchweg aufrechterhalten. Er gibt dem Symposion das Flair des Ungewöhnlichen, des Nichtalltäglichen. Er hebt den Geist und weitet die Seele. Er stiftet unter den Beteiligten einen Geist der Verbundenheit – denn sie alle schöpfen nicht nur aus dem großen Mischkrug ihren Wein, sie schöpfen ebenso aus der Tiefe ihrer Seelen die Begeisterung für den gemeinsamen Geist.
Wir leben nicht mehr in der Welt der alten Griechen. Wir wissen nicht einmal, ob sie ihre Trinkgelage wirklich so feierten, oder ob dies eher die Wunschvorstellung des Philosophen ist. Was wir aber durchaus wissen können, ist wie sehr sich traditionelle Feiern von den Partys der Gegenwart unterscheiden. Man muss dabei nicht erst an religiöse Feste in Südeuropa oder Irland denken. Jede Jubiläums- oder Geburtstagsfeier wurde einst anders begangen. Man kam nicht zusammen, um zu feiern, „einfach so“, sondern um dem Jubilar die Reverenz zu erweisen.
Man sprach Toasts auf sein Wohl, man hielt Ansprachen, man richtete sich gemeinschaftlich aus auf denjenigen oder diejenige, die es heute, an diesem Tag zu feiern gab. Man legte sogar Festtagskleidung an, um dem besonderen Charakter jenes Feiertags ein äußerliches Ansehen zu verleihen. Von alledem ist bei den Partys, die in Willingen und anderswo vonstattengehen, nichts zu sehen: keine Toasts, keine Gedichte, kein Smoking oder Abendkleid. Stattdessen Jeans, Turnschuhe (maximal Dirndl und Lederhosen) und Radau. Das ist nicht böse oder schlecht, es ist nur schmerzlich würdelos, nur unerträglich arm und flach. Es unterbietet dramatisch, was eine wirklich menschliche Feier sein könnte und entfaltet das Potenzial menschlicher Festkultur zu nichtmals 10 Prozent.
Manch einer mag sich noch daran erinnern, wie einst das Weihnachtsfest gefeiert wurde. Da stand es außer Zweifel, was der Anlass dieser Feier war: die Geburt Jesu. Die Festgemeinde richtete sich daran aus. Das Kind in der Krippe war das Gravitationszentrum, das dem Fest sein eigenes Gepräge gab und das die Menschen sammelte: Sie kamen in der Kirche zusammen, sie sangen Weihnachtslieder, beschenkten sich vor der Krippe. Die Herzen flogen höher und der Geist ging auf. So feiern heute nur die allerwenigsten.
Gewiss, man holt den guten Wein aus dem Keller, man veranstaltet ein Festessen. Das alles ist gut und schön. Aber wo nur noch Essen und Trinken den festlichen Charakter einer Feier verbürgen können, ist es um sie schon geschehen. Denn wenn der Bauch voll ist, ist das Herz noch lange nicht begeistert. Und das geschieht auch dann nicht, wenn der Geist benebelt ist und am Ende des Heiligen Abends der Fernseher eingeschaltet wird – oder der offene Streit entbrennt. So oder so: Essen und Trinken allein machen keine Feier, Weihnachtsdeko und Tannenbaum allein stiften keine Verbundenheit. Solange der Geist fehlt, der dem Anlass Sinn und Tiefe gibt, bleibt selbst das feierlichste Weihnachtsessen eine Party.
Geht Weihnachten dann nur für Religiöse? Im landläufigen Sinne des Wortes „religiös“ keineswegs. Man muss nicht fromm sein, um dem Weihnachtsfest die Tiefe zu verleihen, die eine Feier aus ihm macht. Man sollte nur insofern „religiös“ sein, als das Wort vom dem lateinischen religio herrührt: Rückbindung. Denn rückgebunden sollte eine Feier wirklich sein: rückgebunden an das, was es zu feiern gilt – an das, was Zentrum und Sinn der Feier ist; was einen Tiefenraum erschließt, worin der Geist gehoben wird.
Wem das an Weihnachten mit Jesus und dem lieben Gott nicht einleuchtet, könnte das Fest als das gestalten, was es von seinem Ursprung her immer auch gewesen ist: ein Fest, das der Familie gilt – bei dem sich die Familie ihrer selbst besinnt und sich ihrer Zusammengehörigkeit vergewissert; bei dem sie aufeinander hört und miteinander spielt; bei dem sie sich beschenkt und aneinander freut. Es braucht dafür nicht mehr und auch nicht weniger als eine einfache geistige Operation: den Entschluss, es in diesem Jahr so zu halten und bei allem, was am Weihnachtsfest geschieht, den Fokus auf die Familie als Zentrum der Feier zu lenken. Die Chancen, dass der Heilige Abend nicht im Fiasko endet, werden dadurch steigen. Für Partys sind Sie eigentlich zu alt. Wie wäre es, nun endlich mit dem Feiern zu beginnen?
Dr. phil. Christoph Quarch ist Philosoph, Autor und Berater. Er lehrt anverschiedenen Hochschulen und veranstaltet philosophische Reisen, u.a. mit „ZEIT-Reisen“. www.christophquarch.de