Islamophobie und Antisemitismus

Können interreligiöse Beziehungen zwischen Muslimen und Juden zur Bekämpfung von Hassverbrechen beitragen?

01.08.2022 - Rabbi Allen Maller

Die Tatsache, dass die Anzahl der Hassverbrechen gegen Juden und Muslime fast in gleichem Maße (um mehr als 60 %) zugenommen hat, beweist, dass die Quelle dieser Hassverbrechen in einer kleinen Minderheit der Mehrheitsbevölkerung liegt, die nach Jahren hoher Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Not sowohl Juden als auch Muslime zu Sündenböcken macht.

In der heutigen gespaltenen Gesellschaft grassiert sowohl in Bezug auf Politik als auch Religion das "Sündenbockdenken", bei dem es sich im Wesentlichen um eine Form von Klatsch, Verleumdung und Hass handelt. Dabei macht man eine missliebige Gruppe von Menschen verantwortlich für das Unrecht, unter dem die eigene Gruppe negative und sogar gewalttätige Folgen erleidet.
Sündenbockdenken endet zunehmend in aktivem Hass und führt dazu, dass der Gruppe, die zum Sündenbock gemacht wird, gewaltsamer Schaden zugefügt oder dies zumindest versucht wird. In der Regel geschieht dies wahllos, einfach weil zufällig anvisierbare Personen der verhassten Gruppe angehören (oder als solche wahrgenommen werden).

Intoleranz und der darauffolgende Hass können sich zu einer Bedrohung für Leib und Leben entwickeln. In den Nachrichten werden immer häufiger offene Aktionen bekannt, entweder über Individuen oder organisierte Gruppen, die die Absicht haben, die zum Sündenbock gemachten Personen aus der Gesellschaft zu entfernen oder, wenn nichts anderes funktioniert, sie zu töten.
Die beschriebenen Ängste haben drei Hauptkategorien von Sündenböcken hervorgebracht: Einwanderer, Juden und die Religion des Islam – dies zeigt sich in einem starken Anstieg des Antisemitismus und der Islamophobie in den Vereinigten Staaten und Großbritannien.

In einer drei Jahre alten Umfrage (18.21.2019) wird berichtet, dass 35 % der Briten nach den Terroranschlägen von 2017 den Islam für eine Bedrohung der britischen Lebensweise halten, und dass Antisemitismus in der politischen Linken im Vereinigten Königreich ein zunehmendes Problem ist.

Die antifaschistische Gruppe Hope Not Hate hat ihren jährlichen Bericht "The State of Hate" erstellt, der auf einer im Juli 2018 durchgeführten Umfrage von 10.383 Briten basiert. Darin wird dokumentiert, dass sich antimuslimische Vorurteile in den letzten acht Jahren verfestigt und bei rechtsextremen Gruppen die Angst vor zunehmender Einwanderung supplantiert haben.
In dem Bericht wird auch linker Antisemitismus, insbesondere in der Labour-Partei, als kritisches Problem genannt (dieser ist in letzter Zeit zurückgegangen).

Die Autoren von "The State of Hate" zitierten Verschwörungstheorien und Tropen über ein unangemessenes Maß an jüdischer Macht und sowie die Behauptungen, dass liberaler Antisemitismus eine rechte oder zionistische Verschwörung sei.

Dreizehn Prozent der befragten Briten stimmten zu, dass Juden eine ungesunde Kontrolle über das Bankensystem der Welt ausüben. Fast die Hälfte der Befragten sagte, dass dies eine falsche Aussage sei, und etwa 41 % gaben an, dass sie dazu keine Antwort wüssten.

Die Angriffe auf die 280.000 Juden und 2,5+ Millionen Muslime in Großbritannien, einschließlich Übergriffe und Belästigungen, sind im vergangenen Jahr um mehr als 60 % gestiegen, wie aus den Statistiken der London Police hervorgeht. Die Metropolitan Police befasste sich in den zwölf Monaten zwischen November 2014 und November 2015 mit 483 antijüdischen Vorfällen, was einem Anstieg von 62 % gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres entspricht. Einen ähnlichen Anstieg um 64 % verzeichnete die Londoner Polizei auch bei antimuslimischen Vorfällen, die sich auf insgesamt 818 solcher Angriffe summierten.

Die Tatsache, dass die Anzahl der Hassverbrechen gegen Juden und Muslime fast in gleichem Maße (um mehr als 60 %) zugenommen hat, beweist, dass die Quelle dieser Hassverbrechen in einer kleinen Minderheit der Mehrheitsbevölkerung liegt, die nach Jahren hoher Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Not sowohl Juden als auch Muslime zu Sündenböcken macht.

In den USA sind die Dinge noch verdrehter. Obwohl 55 % der am 6. und 7. Juni 2022 befragten Republikaner angaben, sie glaubten, dass der Aufstand vom 6. Januar 2021 von gewalttätigen linken Demonstranten angeführt wurde, waren nach Angaben der US-Staatsanwaltschaft fast alle der 840 nach dem Angriff verhafteten Personen Trump-Anhänger, und FBI-Direktor Christopher Wray sagte, es gebe keine Beweise dafür, dass sich linke Extremisten während des Angriffs als Trump-Anhänger getarnt hätten.

All dies lehrt uns, dass jeder ständig daran erinnert werden sollte, dass religiöser/politischer Extremismus letztlich selbstzerstörerisch ist, sowohl für den Extremisten selbst als auch für seine Anhänger. Um es mit den Worten des Dichters W. B. Yeats zu sagen: "Things fall apart; the centre cannot hold…The best lack all conviction, while the worst are full of passionate intensity."

Es ist an der Zeit, dass diejenigen mit den besten religiösen Überzeugungen – vor allem Menschen aus den muslimischen und jüdischen Minderheiten –, die Aktivitäten und Glaubenssätze derjenigen mit den schlimmsten religiösen Überzeugungen anprangern und verleumden, bevor sie es schaffen, alle Gläubigen an den einen Gott Abrahams zu entheiligen und herabzusetzen.

Unsere religiösen und politischen Oberhaupte könnten zur Verbesserung der interreligiösen Beziehungen beitragen, indem sie ständig die Lektion des deutschen protestantischen christlichen Theologen Martin Niemöller (1892-1984) wiederholen: Dieser sprach über die Feigheit der deutschen Intellektuellen nach der Machtergreifung der Nazis und der anschließenden Auslöschung ihrer gewählten Zielgruppen:

"Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestierte.“

Unsere religiösen und politischen Oberhäupter könnten auch dazu beitragen, die interreligiösen Beziehungen zu verbessern, indem sie die Lektion eines spanischen muslimischen Theologen aus dem elften Jahrhundert ständig wiederholen:

"Erkläre deinen Dschihad gegen dreizehn Feinde, die du nicht sehen kannst – Egoismus, Arroganz, Eitelkeit, Gier, Lust, Intoleranz, Zorn, Lügen, Betrug, Klatsch und Verleumdung [z. B. Sündenbockdenken]. Wenn du diese beherrschen und zerstören kannst, dann bist du bereit, den Feind zu bekämpfen, den du sehen kannst." – Imam Al-Ghazali



Was kann ich tun?

Sprechen Sie sich als Einzelperson gegen Intoleranz und Hass aus, wo immer Sie sie finden. Schließen Sie sich mit anderen zusammen, die sich ebenso gegen die Verbreitung von Gewalt und für die Verständigung mit Andersdenkenden einsetzen, um Konfliktlösungen und gegenseitiges Verständnis zu fördern.

Finanzieren Sie Institutionen, die sich professionell für gegenseitige Toleranz, Frieden und Gerechtigkeit für alle einsetzen. Unterstützen Sie öffentlich geförderte Medien, die keine einseitige oder sensationslüsterne Berichterstattung betreiben, die wirklich investigativ berichten und beide Seiten eines Themas in historischer und soziologischer Tiefe darstellen, die Imame und Rabbiner zu einer öffentlich im Fernsehen übertragenen Diskussion miteinander einladen.

Und welche Rolle spielen interreligiöse Programme? Muslime und Juden sind die beiden größten und einflussreichsten religiösen Minderheiten im Westen und beide sind erneut Sündenbockdenken und Hassverbrechen ausgesetzt. Es wäre sinnvoll, wenn Muslime und Juden ihre erfolgreichen Strategien einander kommunizieren und sich gegenseitig Unterstützung gewähren.

Es gibt bereits viele interreligiöse Aktivitäten und Gruppen in größeren Städten, darunter auch muslimisch-jüdische Gruppen. Die Anzahl der aktiven Mitglieder dieser Gruppen kann erhöht und ihre Bemühungen auf diese Weise bestärkt werden.

Imame und Rabbiner sollten ihre Mitglieder ermutigen, sich an solchen Veranstaltungen zu beteiligen und zu deren Planung beizutragen, um enge persönliche Beziehungen aufzubauen. In den meisten städtischen Gebieten gibt es einen lokalen Verband jüdischer Organisationen, der interessierte Muslime an Rabbiner verweisen kann, die mit muslimischen Gruppen oder mit Einzelpersonen zusammenarbeiten und das muslimisch-jüdische Verständnis und die Brüderlichkeit fördern wollen. Es liegt an uns, Brücken zu bauen, die alle unsere Gemeinschaften gegen die wachsende Welle des Hasses stärken können.

 

Rabbi Maller ist Absolvent der UCLA und des Hebrew Union College. Rabbi Maller war früher Präsident der Southern California Association of Reform Rabbis und ist jetzt Präsident des National Jewish Hospitality Committee. Er hat über 100 Artikel über jüdische Werte in populären jüdischen, muslimischen und christlichen Zeitschriften veröffentlicht.


Erstquelle: themuslimvibe.com (deutsche Übersetzung von Olivia Haese)

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