Literaturwissenschaftler im Interview

Jochen Hörisch: "Sprache signalisiert: Ich bin einer von euch"

01.08.2017 - Anna Stahl

Die Kommunikation im Alltag zeigt, wie schwer es manchmal ist, verstanden zu werden und sich verständlich zu machen. Die Macht der Sprache und Ihre Wirkung werden allzu oft unterschätzt. DAS MILIEU sprach mit dem deutschen Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch über die Entwicklung der Sprache, inwiefern Jugendsprache schon immer eine besondere Rolle gespielt hat, welche Rolle gerade Medien bei der Veränderung der Sprache spielen und wie ein jeder von uns durch Sprache beeinflussen kann.

DAS MILIEU: Herr Hörisch, 2016 gab es einen Hollywoodfilm, „The Arrival“. Es ist ein Science-Fiction Film in dem Außerirdische auf die Erde kommen und eine Linguistin beauftragt wird, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. In diesem Film fällt irgendwann das Zitat: „Die Sprache ist das Fundament der Zivilisation. Sie schweißt ein Volk zusammen. Sie ist die erste Waffe, die bei einem Konflikt zum Einsatz kommt“. Sind Sie der Meinung, dass wir die Bedeutung der Sprache in unserer Gesellschaft unterschätzen?

Jochen Hörisch: Bei dem Zitat fällt sehr schnell auf, dass es auf eine produktive Art und Weise in sich widersprüchlich ist. „Sie schweißt das Volk zusammen“ – und dann ging es weiter, ich will es präzise zitieren –

MILIEU: Genau: „Sie ist die erste Waffe, die bei einem Konflikt zum Einsatz kommt.“

Hörisch: Wenn man in einer Auseinandersetzung Waffen einsetzt, dann tut man das in der Regel nicht, um zusammenzukommen. Ich bin gegen wohlfeile Theorien des Konsenses. Wir kommunizieren, um uns zu verständigen, um eines Konsenses Willen. Das ist in gewisser Weise trivial. Der tiefe Sinn von Diskurs – das Wort signalisiert dies bereits deutlich - ist auseinanderlaufen (lat. dis-currere). Wir finden es nur interessant, miteinander zu sprechen, wenn wir Differenzen haben. Kommunikation ist nicht konsensorientiert, sondern in ihrer Tiefenstruktur dissensorientiert. Ohne Dissens keine Kommunikation. Mir wäre also der zweite Satz wichtiger als der erste. Der erste trifft die trivialen Bereiche der Sprache, der zweite betrifft ihre eigentliche Produktivität. Im Diskurs zu sein heißt, nicht im Konsens zu sein, nicht dieselben Meinungen oder dieselben Argumentationsfiguren zu haben. Nicht Konsens, sondern Dissens ist die regulative Idee von Kommunikation. Das weiß die Literatur, deshalb bin ich Literaturwissenschaftler.

MILIEU: Sie befassen sich in Ihrer Arbeit mit modernen Medien. In der heutigen Zeit kommunizieren wir in einem Maße, das bisher so nie existiert hat. Man kann von fast überall aus kommunizieren. Was macht diese ständige, oft unpersönliche Kommunikation mit uns und unserer Sprache?

Hörisch: Unendlich viel. Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Als ich Abitur gemacht habe und so jung war wie Sie – wäre da jemand gekommen und hätte gesagt, es wird mal so etwas wie ein Smartphone geben – mit dem können Sie diktieren, schreiben, alles Mögliche lesen, zig-Millionen Musik-Titel hören, Fotos schießen, Filme drehen, rechnen, eine Bahnfahrkarte speichern, Schach etc. spielen – da hätte ich gesagt: du spinnst. Es ist die große mediale Revolution. Was macht das mit uns und unserer Sprache - da will ich zwei, drei Aspekte herausgreifen. Das Comeback der Schrift ist erstaunlich. Man muss letztlich nicht mehr alphabetisiert sein. Man kann in so ein Gerät hineinsprechen und das Gerät verschriftlicht dann das Gesagte. Umgekehrt kann ich mir Schrift vorlesen lassen. Das heißt, die große Autorität der Schrift, der Autor, fällt weg. Schrift wird inflationär. Jeder kann am Schriftsystem teilhaben, ohne alphabetisiert zu sein. An die Stelle der Mitbestimmung ist das Recht „ich schreibe mit“ getreten. Aus einer spekulativen Perspektive heißt das: Wir schreiben das Buch der Natur neu. Wir merken, dass die alte romantische Metapher vom Lied, das in allen Dingen schläft, keine Metapher ist, sondern dass wir dieses Lied der Natur dechiffrieren können – und dass wir Natur, konkret: diese oder jene Gen-Sequenz neu schreiben können. Derrida hat sich mit seiner Rehabilitation der Schrift gegenüber der Suggestion der Rede wirklich durchgesetzt. Unsere Sprache wird dadurch anspruchsloser. Man schreibt mit sehr viel mehr Enthemmung als früher. Jeder darf ungestraft mitschreiben. Die Gatekeeper fallen weg, da ist kein Redakteur mehr, kein Lehrer, keine Zensurinstanz (wie noch bei Wikipedia). Bei Twitter oder auf Facebook oder bei Blogs fallen diese Schranken. Man blickt nicht mehr zu den Sternen auf und sagt: ich will so exquisit schreiben, wie Dante, Shakespeare, Rilke, sondern man schreibt einfach. Es gibt eine gewisse Enthemmung beim Schreiben und dadurch eine Entsakralisierung der Schrift. Wir merken, dass sich die Grundmetaphern verändern. Die Buchmetaphorik wurde durch die neuen Medienverhältnisse mitsamt einer neuen Leitmetaphorik abgelöst. Ich brauche einen Navigator, ich habe einen „Information-overload“, gehe unter in der Flut der Informationen, in der ich surfe. Wie kann ich da Kurs halten? Anstelle des festen Buchstabens ist die Überfülle an überschwappenden Informationen getreten. Die Frage ist, ob wir oder wie wir damit umgehen können und sollen.

MILIEU: Führt denn diese Tatsache, dass jeder etwas zum Diskurs beitragen kann, zu einem Qualitätsverlust, wie man es in den Medien, im Feuilleton liest? Kann es bereichernd sein, wenn eine breitere Masse an Menschen etwas zum Diskurs beiträgt?

Hörisch: Ich habe da eine wahnsinnig originelle These - Sie merken, ich mache mich über mich selbst lustig – es stimmt beides. Sie haben Emanzipationsmöglichkeiten, Sie haben die Chance, Originelles durchzusetzen. Ich bin durchaus jemand, der sich, in der Tradition von 1968 versteht, der Emanzipation nicht für ein Schimpfwort hält. Bei der Konstruktion und Destruktion falscher Autoritäten bin ich der klassische, gewissermaßen konservativ-anhängliche Aufklärer: Ich mache postmoderne Kritiken an Aufklärungsprogrammen nicht mit. Zugleich entdecke ich diese nicht sonderlich originelle kulturkonservative Komponente. Es ist in der Tat so, dass alte Autoritäten, wie die meines Amtes - Professoren, Priester, Zensoren aller Art, Redakteure, Intendanten, Gatekeeper - nicht mehr den Einfluss haben, den sie früher hatten. Und das sorgt dafür, dass beliebiger Dreck durch die Kanäle geschwemmt werden kann. Es ist ein Sendekanal und in den Kanal gehört eben auch das Defäzierte. Dieser Schrott wie Faschistisches oder Kinderpornographie kann da einigermaßen enthemmt verbreitet werden. Man sollte das einigermaßen illusionsfrei sehen. Insofern meine schrecklich banale These: Es gibt Ausschläge nach beiden Seiten hin. Es hat wenig Sinn zu sagen: Dieses Medium ist ein gutes, das andere Medium ist ein schlechtes. Um es drastisch zu illustrieren: Wer sagt, dass gute alte Buch hätte diese Probleme noch nicht gehabt, der täuscht sich. Hitlers „Mein Kampf“ war ein Buch. Man kann nicht sagen, Bücher sind gut, das Internet ist schlecht, das wäre eine schwachsinnige Hypothese. Es kommt darauf an, was man damit macht. Ich wollte, ich wäre origineller, aber etwas Originelleres fällt mir dazu nicht ein.

MILIEU: Das heißt, es kam und kommt auf den Verwendungszweck an, damals wie heute?

Hörisch: Das berühmte Beispiel des Küchenmessers: Kartoffeln schälen oder jemanden mit dem Messer ermorden. Das Messer ist unschuldig. Es gibt so etwas wie die politische, psychologische Unschuld, auch bei den Medientechnologien. Das ändert nichts an der Gültigkeit des alten McLuhan-Satzes, dass das Medium die Botschaft ist. Meine Aufmerksamkeit, meine Mentalität, meine kognitiven Kapazitäten sind anders fokussiert, wenn ich ein Buch aufschlage, als wenn ich fernsehe, Musik höre, oder durchs Internet surfe.

MILIEU: Die Jugendsprache wird häufig kritisiert. Wie würden Sie sich zu der These äußern, dass diese zum Verfall der Sprache beiträgt?

Hörisch: Schauen Sie sich an, was es etwa im Umkreis von Rechtsradikalismus in den 1920er-Jahren und unter den Nazis an Verfall von Jugendsprache gab. Wen man da massakrieren wollte, wen man vergiften wollte, welches „Ungeziefer“ man ausrotten wollte - und nicht bloß wollte. Ich kann nicht feststellen, dass heutige Tendenzen da schlimmer sind als frühere. In der Jugendsprache, wie in der Sprache von Erwachsenen, hat es immer Brutalisierungs- und Desensibilisierungsprozesse gegeben. Man spricht von Sonderbehandlung, meint damit aber Massenmord. Das ist auch sprachliche Degeneration. Es ist ein brutaler Euphemismus. Wir haben umgekehrt heute aber auch eine Hypersensibilisierung im Hinblick auf political correctness. Auch da gibt es die obligatorische Gegentendenz. Es gibt zweifellos Brutalisierungstendenzen. Es gibt aber auch die Tendenz, das Wort Flüchtling nicht mehr zu gebrauchen, sondern „Geflüchteter“. Ich halte das für Schwachsinn. „Flüchtling“ gehört nun mal zum Thesaurus der deutschen Worte. Da bemerken Sie eine pathologische Pseudo-Übersensibilisierung gegenüber vermeintlich abzulehnenden Tendenzen der Sprache.

MILIEU: Und was ist mit Begriffen, die man zu vermeiden versucht, um Diskriminierung zu verhindern?

Hörisch: Ich bin kein Gegner von political correctness per se. Dass man denunziatorisch-abwertende Worte wie „Neger“ nicht sagt, finde ich absolut richtig. Das ist eine Frage des Respekts. Grundsätzlich würde ich aber vor überzogener, verrückter, pathologisch gewordener politischer Korrektheit im Sprachgebrauch warnen, weil Sprachreglementierung immer schon ein sehr verlässliches Zeichen für totalitäre Regime war, von Links wie von Rechts. Man durfte in der DDR nicht Mauer sagen, sondern es war der „antifaschistische Schutzwall“. Und bei den Nazis erließ Goebbels eine sehr strikte Sprachreglementierung. Viele, die heute mit Political Correctness arbeiten, vergessen, dass sie im besten Fall in die Rolle der Gouvernanten („dieses böse Wort darfst du nicht sagen“), im schlimmsten Fall in die von Propagandaministerien rücken. Und da finde ich unser Ursprungsmotiv wieder: Diskurs muss dissensorientiert sein, nur dann ist er produktiv.

MILIEU: Und wo zieht man die Grenze zur Diskriminierung?

Hörisch: Man hört sehr genau heraus, was eigentlich einen frivolen, neckenden, in der Distanz auch liebevollen Ton hat und was wirklich einen Vernichtungsimpuls hat. Ich will eine kleine Lanze brechen, für die hochformalisierte Sprache der Diplomatie oder der Jurisprudenz. Das sind gewissermaßen Vorwarnsysteme, damit es nicht zu Grobheiten kommt. Das ist eine Form von Kultivierung der Sprache, die stark sensibilisieren kann.

MILIEU: Konfuzius soll gesagt haben: „Die Kunst der Sprache besteht darin, verstanden zu werden“. Da sind wir wieder am Anfang unseres Gesprächs, bei der Ermöglichung von Kommunikation. Könnte es irgendwann dazu kommen, dass wir uns aufgrund der Veränderung, welche die Sprache durchläuft, nicht mehr verstehen?

Hörisch: Das ist ja häufig der Fall. Ich würde, in der Tradition von Friedrich Schlegel, der einen wunderbaren Essay über die Unverständlichkeit geschrieben hat, sagen, dass die Unverständlichkeit das eigentlich provokante Moment ist, dass sich sehr viele neue Einsichten überhaupt erst erschließen, wenn ich etwas nicht verstehe, weil es meine intellektuellen Kapazitäten übersteigt. Ich will dann das Geheimnis enthüllen und das Rätsel dechiffrieren. Ich bin kein Gegner des Unverständlichen, sonst wäre ich nicht Literaturwissenschaftler geworden, der Hölderlins, Mallarmés und Celans Lyrik schätzt. Unverständlichkeiten, die willkürlich sind, mit denen man sich zu Unrecht interessant machen will, halte ich für kontraproduktiv. Aber Unverständlichkeit kann auch reizvoll sein.

MILIEU: Viele Linguisten und Philosophen sprechen davon, dass es im medialen und politischen Diskurs eine Verrohung gibt, die man beispielsweise an Donald Trump sieht. Was liegt dieser Entwicklung zu Grunde? Warum ist so etwas möglich geworden?

Hörisch: Das ist immer eine Frage des Vergleichs. Nehmen Sie die Rhetorik während der französischen Revolution, nehmen Sie die Rhetorik von Inquisitionsprozessen. Dass die weniger verroht waren, wenn sie Hexen verbrannt haben, kann ich nicht grundsätzlich sehen. Zu Trump – ich wünschte, ich könnte etwas Originelles sagen oder mich interessant machen, indem ich sage: ich teile die Verachtung für Trump nicht - nein: Er ist eine bizarre Katastrophe. Die Art und Weise, wie er Mindeststandards an gepflegter Rhetorik unterbietet, ist einfach atemberaubend. Alles Bizarre hat ein Unterhaltungsmoment, aber das Niveau, das Trump einschlägt, ist so unterirdisch, dass man mit dem Kopfschütteln gar nicht mehr aufhören kann (es sei denn, die starke Vermutung, er sei dement, bewahrheitet sich). Darauf reagieren ja auch die obligatorischen Warnsysteme sehr stark.

MILIEU: Wie Trump seine vulgäre Sprache einsetzt, hat viel mit politischem Kalkül zu tun. Das lässt sich auch bei anderen Politikern beobachten, wie zum Beispiel Marine Le Pen oder Geert Wilders. Wieso lassen sich mit so einer Sprache Wähler gewinnen?

Hörisch: Meine Sympathie hält sich nicht nur in überschaubaren Grenzen, sie ist für die genannten Leute schlechterdings nicht vorhanden. Aber man kommt nicht weiter, wenn man auf diese Leute einschlägt. Sind sie doch ein Symptom für ein durchaus analysebedürftiges Problem. Diese Politiker drücken eine offenbar verbreitete Stimmung aus und sind in - noch überschaubaren - Grenzen erfolgreich. Man muss fragen, woher das kommt. Ich denke, dass sehr viele, die politisch korrekte Milieus bevölkern, vergessen, wie stark sie sich abgekoppelt haben. Es ist ja nicht so, dass ein Asylant oder Flüchtling mir den Lehrstuhl streitig macht. Das müssen wir bedenken. Das gilt aber nicht unbedingt für den Tankwart oder den kleinen Hilfsarbeiter oder den Müllmann oder den Industriearbeiter am Fließband. Und wenn wir zu dem, der in seiner sozialen Existenz bedroht ist, sagen: „Sei doch multikulturell, sei liberal, sei offen!“, dann können wir, die wir uns - schreckliches Wort – irgendwelchen Eliten oder Bessergestellten oder Kompetenteren oder Souveräneren zurechnen, uns das Spiel leichtmachen und unsere Arroganz kultivieren, wir kommen aber nicht weiter. Es ist nachvollziehbar, dass Leute das als Bedrohung ihrer sozialen Stellung, ihrer Emanzipationsmöglichkeiten empfinden. Die Frage ist, wie wir damit umgehen. Wir haben seit Jahrzehnten Hohn und Spott über eine klassische, im weiteren Sinne sozialdemokratische Politik ausgegossen. Man sieht, dass es in den klassischen sozialdemokratischen Ländern wie Norwegen, Schweden, Dänemark, die Probleme, die es etwa in den USA oder England gibt, so nicht gibt. Zu sagen: wie könnt ihr bloß so gegen Multikulturalität sein, wie könnt ihr bloß Marine Le Pen wählen, ist eine leichte Sache. Eine Politik zu machen, die den Leuten keinen Grund mehr gibt, so zu wählen und sich politisch so zu positionieren wie sie es tun, das ist die anspruchsvollere Aufgabe.

MILIEU: Wenn wir noch einmal auf Donald Trump zurückkommen: Abgesehen von der vulgären Sprache bedient er sich religiöser Metaphern, ohne selbst religiös zu sein. Es gab zum Beispiel den Fall, als er im Fernsehen einen Bericht über den Giftgasanschlag in Syrien gesehen hat und in der Folge dann in einer Rede von den syrischen Kindern als „Children of God“ gesprochen hat. Warum tut er das?

Hörisch: Wir vergessen immer wieder, dass das Flaggschiff der westlichen Welt, die USA, immer noch ein tief religiöses Land sind. Die USA sind „God´s own Country“, in religiösen Fragen extrem liberal, was die Binnenstrukturierung angeht, mit großem Respekt voreinander. Aber man ist als Amerikaner heute immer noch suspekt, wenn man allzu bekennend atheistisch oder agnostisch ist. Das weiß Trump. Und er bedient die übliche Rhetorik der Religiösen in den USA aus einem sehr taktischen Grund. Ich habe eindeutig Angst davor, dass Trump ein politisches System etabliert, das nicht mehr demokratisch ist, auch wenn ich hoffe, dass das verhindert wird.

MILIEU: Es ist klar, dass Trump nicht der Schicht angehört, aus der seine Wähler stammen. Kann es sein, dass die Sprache die Realität so verzerrt, dass die Leute darüber hinwegsehen können?

Hörisch: Ja. Trump hat ja ein sehr einfaches Vokabular. Auf einer rein funktionalen Ebene ist das häufig so bei Politikern, die sehr erfolgreich sind. Adenauers aktives Vokabular umfasste etwa 2.000 Wörter im Deutschen. Der Wähler denkt: Trumps Vokabular ist ähnlich wie meines. Letztlich hoffe ich, dass ich genau so weit komme wie er. Mit Sprache kann man signalisieren: Ich bin einer von euch. Das ist nicht nur im Fall von Trump ganz offenbar völlig verlogen, denn nicht alle wohnen im Trump-Tower und haben den Blick auf den Central Park. 

MILIEU: Wenn man davon ausgeht, dass Sprache die Gesellschaft widerspiegelt, wie würden Sie unsere Gesellschaft charakterisieren?

Hörisch: Ich verdanke der Systemtheorie von Luhmann sehr viele Denkimpulse. Die Grundthese von Luhmann, dass wir in funktional ausdifferenzierten, autopoietisch prozedierenden Gesellschaften verkehren, die Subsysteme mit jeweils eigenem binärem Code haben und sich auf die Bearbeitung von Einzelproblemen spezialisiert haben, scheint mir schon angemessen zu sein. Wir sind in ein Gesellschaftsmodell eingetreten, in dem es um Feinjustierungen geht. Feinjustierung zum Beispiel bei Bildungschancen, Rentensystemen und Erbschaftssteuern. Funktionale Ausdifferenzierung, Demokratie, freie Wahlen, freie Presse, eine unabhängige Justiz und dergleichen sind die richtigen Grundstrukturen; das muss man auch sprachlich konzedieren. Grundsatzkritik hat auch sprachlich häufig ein Problem, das die Soziologie so schön als Adressatenproblem herausstellt: Ich kritisiere „die Moderne“ oder „den Kapitalismus“ oder „die Globalisierung“ oder „den Westen“. Wenn jemand sagt, dass er „die Globalisierung“ für eine Katastrophe hält, dann sage ich: „Das leuchtet mir ein. Sag mir doch bitte die Telefonnummer oder die E-Mail-Adresse oder die Hausnummer der Globalisierung, dann gehe ich hin und sage der Globalisierung mal so richtig die Meinung, vielleicht kommt sie dann zur Vernunft und bessert sich.“ Dann merken Sie schnell, was für einen schrägen Vorschlag ich mache. Es gibt keine Adresse für „die Globalisierung“. Man geht sprachlich gesehen damit um, indem man nicht in die Sprachfalle geht und der Globalisierung die Schuld gibt, sondern bedenkt, dass die Globalisierung keine Adresse hat. Die Moderne ist schuld, das Internet ist schuld – okay, dann zeig mir doch bitte wo der Aus-Knopf ist beim Internet, dann stelle ich es aus. Man kann es nicht ausstellen. Also muss man gerade auch bei Kritik die richtige Sprache finden, die keine falschen Versprechungen macht.

MILIEU: Es gibt mit dem Turmbau zu Babel die Metapher der Sprachverwirrung als Strafe Gottes. Haben wir Ihrer Meinung nach dieses Problem der Sprachverwirrung überwunden? Verstehen wir uns?

Hörisch: Ja – mit dem Internet und den Übersetzungsprogrammen, die rudimentär funktionieren, haben wir beste Aussichten auf das große Pfingstwunder (inklusive der ihm folgenden Ernüchterungen!). Einfache Sätze können bereits übersetzt werden. Früher sagte man: Es wird nie einen Computer geben, der einen Schachweltmeister besiegt. Heute ist es seit mehr als zehn Jahren der Fall, dass Deep Blue regelmäßig den Schachweltmeister besiegt.

MILIEU: Vielen Dank für das Interview, Herr Hörisch!

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