Immer wieder Marx – eine Kolumne über Wachstum und Nachhaltigkeit
01.01.2023 -“Hatte Marx doch recht?”, fragte das Magazin DER SPIEGEL in seiner Ausgabe vom 30. Dezember 2022 und bescherte seinen LeserInnen damit zum Jahresabschluss noch einmal eine Runde Kapitalismuskritik. Ein perfekter Aufhänger für diese Kolumne, um ein paar Gedanken zur Vereinbarkeit von Wachstum und Nachhaltigkeit loszuwerden.
Ich weiß nicht, wieviele Milieu-Leser die besagte Spiegel-Titelstory gelesen haben, aber zumindest mir ist nicht wirklich klar, was denn den Autoren zufolge nun genau die Antwort auf die eingangs gestellte Frage sein soll. Und vielleicht ist sie damit auch eigentlich beantwortet. Bei der Lektüre des Artikels stellt man jedenfalls fest, dass es nur am Rande um Marx geht und die Erwähnung des Philosophen und Kommunismusvordenkers sich schlichtweg besser verkauft als der Untertitel: „Warum der Kapitalismus so nicht mehr funktioniert – und wie er sich erneuern lässt“. Dabei ist dies durchaus ein spannendes und diskutierenswertes Thema, zu dem in dem Artikel unter anderem Ray Dalio (Hedgefondsmanager), Carla Reemtsma („Fridays for Future“) und verschiedenste Ökonomen zu Wort kommen, darunter Maria Mazzucato und Adam Tooze (eigentlich Wirtschaftshistoriker), die man guten Gewissens als „links der Mitte“ einordnen darf und deren Bücher (bzw. drei davon) in meinem Bücherregal zu finden sind.
Das ist zwar eine recht bunte Mischung aber zielführend, denn was am Ende dabei rauskommt ist eine Diskussion der wohl drei drängendsten wirtschaftlichen Problemstellungen unserer Zeit: Die weiterhin zunehmende Kluft zwischen „Arm“ und „Reich“ (verschärft durch die derzeit hohe Inflation), die Vereinbarkeit von Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum (Stichwort: Klimawandel, Energiewende und „Net Zero“) und welche Rolle der Staat bzw. der Markt bei der Bewältigung dieser Probleme spielen soll. Die Botschaft, die nach erfolgter Lektüre (zumindest bei mir) hängen blieb: Es braucht mehr Staat und weniger Wachstum, um den Kapitalismus abermals vor sich selbst zu retten. Für Ersteres habe ich viel Sympathie; bezüglich Letzterem habe ich Bedenken.
Die Forderung nach „mehr Staat“ ist weder radikal noch anti-kapitalistisch
Wieviel Staat relativ zum Markt im Kontext einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft wünschenswert ist, debattieren Ökonomen seit mindestens mehr als 200 Jahren. Wer die Geschichte hinsichtlich dieser Frage studiert, der stellt höchstwahrscheinlich fest, dass es keine permanente, abschließende und allgemeingültige Formel für eine optimale Staatsquote gibt. Heute ist „laissez-faire“ ein böses Wort, doch als Franzose im 18. Jahrhundert (als dieser Begriff geprägt wurde) würde ich mir wahrscheinlich deutlich weniger staatliches Eingreifen wünschen, als es damals der Fall war. Heute liegt die Staatsquote in Europa bei mehr als 40 %, weil die Komplexität unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft dies erfordert – und vor allem auch weil der Staat die organisatorischen Fähigkeiten hat, eine so prominente Rolle einzunehmen, und gleichzeitig Mechanismen vorhanden sind, um die Eingriffe zu begrenzen.
Angesichts der Bewältigung der Klimakrise nach mehr staatlicher Intervention zu rufen, weil offensichtlich ist, dass der Markt allein es nicht richten kann, ist weder radikal noch marxistisch, sondern schlichtweg eine nachvollziehbare Position in einem Diskurs, der höchstwahrscheinlich nie enden wird und in dem unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Schlüssen gelangen. Ich gelange zu dem Schluss, dass für eine erfolgreiche Energiewende CO2-Besteuerung allein nicht ausreichen wird (wie in Ökonomenkreisen meist propagiert) und wir wohl oder übel auf staatliche Investitionen und Interventionen sowie Vorgaben und Verboten setzen müssen. Da dies zwangsläufig Gewinner und Verlierer produzieren wird, werden wir die Kosten von Net Zero zudem umverteilen müssen. Auch das bedarf staatlichem Eingreifens. Aber auch damit verlässt man nicht den Rahmen dessen, was ich als „soziale Marktwirtschaft“ verstehen würde. Ein grundsätzliches Infragestellen des Kapitalismus als wirtschaftliches System sieht meiner Meinung nach anders aus, sodass ich hier keinen prinzipiellen Widerspruch sehe.
Wir brauchen weiterhin Wachstum
Wenn es um das Thema „Wachstum“ geht, werde ich immer dann hellhörig, wenn irgendwo irgendetwas nach „Degrowth“ klingt. Zum einen, weil mir einfach nicht klar ist, wie eine solche Agenda genau aussehen soll bzw. umsetzbar ist. Das hat weniger damit zu tun, dass der angeblich nimmer endende kapitalistische Drang nach Anhäufung von Vermögen und Geld unendliches, exponenzielles Wachstum voraussetzt, sondern die allermeisten Menschen gewisse Bedürfnisse und Wünsche haben, die man vielleicht als „bourgeois“ bezeichnen mag, aber nicht in das Klischee eines unersättlichen Raffkes passen (zum Beispiel der Wunsch nach Mobilität, Zerstreuung und einem Eigenheim) und die gegenwärtige Marktwirtschaft – welche nicht jene ist, die Marx und Engels seinerzeit beobachteten – ziemlich gut darin ist, ziemlichen vielen Menschen ziemlich viele dieser Bedüfnisse und Wünsche zu befriedigen. Das heißt allerdings auch nicht, dass man gewisse Arten von Konsum, wenn man sie für nicht nachhaltig hält, nicht besteuern oder einschränken könnte, zum Beispiel zu große Einfamilienhäuser oder schwere, hochmotorisierte Verbrenner.
Der andere Grund, warum Anti-Wachstum-Rhetorik bei mir Unbehagen auslöst, hat mit der Tatsache zu tun, dass Wachstum nicht immer dasselbe ist. Wachstum kann einerseits der Raubbau von Rohstoffen und die Zerstörung der Umwelt bedeuten. Allerdings ist mein Eindruck, dass eine echte Chance auf eine Zukunft besteht, in der wir nachhaltig und emissionsfrei Energie produzieren und wir unsere limitierten Ressourcen effizient nutzen und so gut es geht recyclen – auch das ist Wirtschaftswachstum. Eine Zukunft, in der wir weiterhin Fortschritte erzielen, vor allem wenn es um Bereiche wie Mobilität und Gesundheit geht, scheint mir nicht nur attraktiver sondern auch machbarer als eine, in der wir uns kollektiv in Askese üben. Wie bereits erwähnt: Das schließt nicht aus, gewisse Arten von Konsum zu besteuern oder in einigen Fällen faktisch unmöglich zu machen. Doch das grundsätzliche Wohlstandsversprechen des Kapitalismus aufgeben? Dafür sehe ich keinen Anlass.
Supply Side Progressivism
Und überhaupt, so manches Problem wird sich nur durch mehr und nicht durch weniger Wirtschaftswachstum lösen lassen: Bezahlbarer Wohnraum in den Städten (bauen, bauen, bauen), die Mobilititätswende (Ausbau von Nahverkehr und Elektrofahrzeug-Infrastruktur) oder die Alterung unserer Bevölkerung (medizinischer Fortschritt, Automatisierung und Robotik). Es wird oft so getan, als sei Wachstum, meist gemessen in der Form des Bruttoinlandsprodukts, ein Zweck in sich, doch dahinter steckt etwas Konkretes: Wohlstand, Prosperität und die Ressourcen, Krisen und Katastrophen zu meistern. Das Gebot der Stunde ist daher nicht „Degrowth“ sondern das, was der US-Journalist Ezra Klein als „Supply Side Progressivism“ bezeichnen würde und dieser beinhaltet unter anderem den Ausbau von Infrastruktur, öffentliche Investitionen in Bildung und Forschung und Anreize für den privaten Sektor zu investieren und nachhaltig zu produzieren. Dies scheint mir auch das, was vielen der in dem SPIEGEL-Titel zitierten Experten und Intellektuellen im Wesentlichen vorschwebt.
Es gibt nicht den einen „Kapitalismus“ und er ist auch nicht statisch, sondern entwickelt sich, passt sich an. Der US-Ökonom Brad DeLong hat ein wundervolles Buch mit dem Titel „Slouching Towards Utopia“ verfasst. Es erzählt die Geschichte des „langen 20. Jahrhundert“ von 1870 bis 2010 (wie DeLong es definiert) aus einer wirtschaftlichen Perspektive und zeigt eindrucksvoll, welche Evolution unser modernes, marktwirtschaftliches System in dieser Zeit durchlaufen hat aufgrund von Innovation und Fortschritt, aber auch politischen Prozessen, weil Menschen eben mehr Rechte wollen als nur das Recht auf Eigentum, wie es der Markt in seiner Reinform kennt. Daher wird auch dieser Moment, in dem wir uns zurecht fragen müssen, ob wir so weiter wirtschaften können, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in eine marxistische Revolution münden, sondern in eine weitere Wandlung des Kapitalismus. Denn wie heißt es doch so schön: Der Kapitalismus ist tot, lang lebe der Kapitalismus!