Kurzgeschichte

Ich und die Juden

01.04.2014 - Mervy Kay

Man lernt viele Menschen kennen und einige von diesen Menschen hinterlassen Spuren. Ein Mädchen mit dunklen Locken und großen braunen Augen hat das mit mir gemacht. Alle nannten sie Shari. Wir waren in einer Jahrgangsstufe und verstanden uns gut. In der siebten Klasse kamen wir in eine gemeinsame Ethik-Klasse und unsere Lehrerin las die Klassenliste herunter. Alle getauften Kinder hatten schon seit der fünften Klasse Religionsunterricht, deshalb gab es bei uns in Ethik verhältnismäßig viele türkischstämmige Namen. Endlich unsere Namen: Merve K. und Sharon K., anwesend.

Sharon? Dieser Name kam mir bekannt vor. Sharon. Woher kannte ich diesen Namen? Arielle die Meerjungfrau? Aber ja. Meine Mutter hatte aufgehört Waschmittel von der Marke Ariel zu kaufen. Ariel Sharon. Sicher doch! War das nicht der Präsident von diesem Land, in dem Zara ihr Augenlicht verlor? “Shari..bist du Jüdin?” Ich hatte mich zu meiner Nachbarin gewandt und muss sie sehr entrüstet angesehen haben, denn erschrocken entgegnete sie: “Nein, nur mein Vater ist Jude..”

 

In diesem Moment muss etwas in mir passiert sein, denn ich legte ihr schnell meine Hand auf den Arm und erklärte ihr warmherzig, wie schön das doch sei! Ich mochte Sharon und ich wollte nicht, dass sie sich für irgendetwas in ihrem Leben schämte und schon gar nicht wegen mir. Zuhause dachte ich wieder über Zaras Augen nach. Zara, die Protagonistin eines Filmes über eine palästinensische Familie, die in Gaza lebte. Zara wurde wie viele andere Kinder gezielt von Zionisten nach Israel entführt. Dort entnahm man ihnen Organe und Zara kam ohne ihre Augen zurück nach Gaza. Ihre Schwester rächte sich mit einem Selbstmordattentat. Eine wahre Tragödie!

 

Ich weiß nicht, was es mit diesem Film auf sich hat, wo ich ihn gesehen habe und warum. Ich weiß aber, dass es viele Ungerechtigkeiten gibt im Nahostkonflikt – auf beiden Seiten! Ich möchte, dass man Probleme offen ansprechen kann und an ihnen arbeitet. Selbstmordattentate sind keine Lösung und schon gar nicht gut oder gerechtfertigt. Ebenso wenig wie jede andere Art von irrationaler Gewalt. Wie zum Beispiel einen Rabbiner zu verletzen und zu beleidigen, nur weil er Jude ist.

 

Wir sind hier nicht in Israel und selbst dann würde es mich erschüttern in der Zeitung zu lesen, dass von jungen Muslimen antisemitische Gewalt ausgeht. Was ermutigt einen Menschen dazu, so viel Anstand zu verlieren? Einen anderen Menschen zu erniedrigen für das, was er ist? Ich glaube, dass die Situation in Israel weitaus ruhiger ist, als einige es sich hier vorstellen. Ich möchte mich gerne bald selbst davon überzeugen. Ich möchte mich von den Menschen überzeugen lassen, denn ich denke, dass ich nicht weniger willkommen sein werde, als in jedem anderen Land.

 

Ich habe immer so viel schlechtes über Serben gehört. Ich bin in der Zeit des Jugoslawienkrieges geboren und habe einige muslimische Bekannte, die von dem Krieg betroffen sind. Vor einem Jahr habe ich selbst Serbien besucht und keinen einzigen Moment lang Hass gegen Muslime gespürt. Vielleicht, weil ich es nicht zugelassen habe, aber sollte es nicht so sein? Was hat es für einen Zweck, Hass zu schüren? Man kann seinen Hass gegen alles Erdenkliche richten und würde doch nichts als Schaden anrichten.

 

Mein Vater meinte heute beim Abendessen, es sei wichtig jüdisch-muslimische Bindungen zu stärken. Wir hätten viele Gemeinsamkeiten und es sei immer besser diese zu betonen, anstatt sich auf Konfliktpunkte zu konzentrieren.
An gemeinsamen Interessen zu arbeiten schafft mit Sicherheit Vertrauen, und Juden und Muslime sind sich in ihren Vorstellungen von Glauben und Religion auch besonders nahe. Doch als ich den Artikel über den Rabbiner las, dachte ich nur an meine Gemeinsamkeit mit ihm als Mensch. Er hatte seine junge Tochter bei sich!

 

Die Leute, die ihre Einstellung wirklich überdenken sollten, werden meinen Blog sicher nicht lesen, darum hoffe ich, dass sie schlaue Mütter haben, die ihnen für so viel Unsinn die Ohren lang ziehen. Man kann gegen Antisemitismus genauso vorgehen, wie auch gegen Islamophobie: Offener sein, nicht tabuisieren, sprechen, anschauen, fragen..

 

Ich möchte nicht, dass man in diesem Land mutig sein muss, um eine Kippa oder ein Kopftuch tragen zu können, ein Tattoo oder ein Kleid. Wenigstens hier können wir es doch schön haben, auch wenn wir nicht ändern können, wie es anderswo aussieht und darum kann ich eines mit Gewissheit sagen:
Wenn ihr was gegen Juden habt, bin ich jüdisch!

 

 

 

Foto: © Tahir Chaudhry

Autoren benötigen Worte.
Worte benötigen Zeit

Unterstützen