Konvertit im Interview

Hamza Ilyas: "Gott befreite mich aus den Fängen der Extremisten"

15.02.2015 - Tahir Chaudhry

Seit 9/11 ist eine anhaltende Konversionswelle zum Islam zu beobachten. In Zeiten von ISIS und Al-Qaida schüren rechte Populisten pauschale Ängste vor Konvertiten. DAS MILIEU sprach mit dem Konvertiten Hamza Ilyas über seine Erfahrungen als schwarzer Muslim in US-Amerika, die Reaktionen seiner Familie, Berührungen mit Extremismus, über den Sinn des Lebens und seine Beziehung zu Gott.

DAS MILIEU: Jeder Mensch ist in irgendeiner Weise auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Haben Sie Ihren Sinn gefunden?

Ilyas: Das ist richtig. Ja, ich habe meinen Sinn in der Botschaft des Koran gefunden. Mein Sinn ist es, eine direkte lebendige Liebesbeziehung mit Gott zu haben und die Lebensqualität anderer Menschen zu verbessern.

DAS MILIEU: Der Islam hat heutzutage ein schlechtes Image. Mit großer Skepsis beobachtet man das Verhalten von Muslimen und wirft ihnen vor, sie würden beabsichtigen, die Weltherrschaft an sich reißen zu wollen und anderen ihre Religion aufzuzwingen. Wenn Ihnen jemand vor etwa 10 Jahren die Frage gestellt hätte, was Sie über den Islam denken, was hätten Sie geantwortet?

Ilyas: Ich denke nicht, dass ich überhaupt hätte antworten können. Ich wusste nicht viel über den Islam. Tatsächlich hätte ich während meiner Kindheit nicht einmal sagen können, was der Unterschied zwischen Arabern oder Pakistanern und Muslimen ist. Dann nach dem 11. September dachte ich, dass alle Araber, Inder und Pakistaner Muslime sind. Ein marokkanischer Freund, der ein arabischer Christ war, klärte mich eines Tages darüber auf, dass nicht alle Orientalen und Asiaten Muslime sind. Das war sehr peinlich. (lacht) Man weiß nie, wie viel man nicht weiß!

DAS MILIEU: Schwarze Muslime, besonders in den USA, haben mit einem doppelten Stigma zu kämpfen. Welche Erfahrungen haben Sie als Heranwachsender in Brooklyn (NY) gemacht und dann, nachdem Sie 2004 zum Islam konvertiert sind?


Ilyas: Vor meiner Konversion, während ich in New York aufwuchs, gab es meist in dem Sinne eine Diskriminierung, dass ich sehr häufig von der Polizei angehalten wurde. Nachdem ich 2004 den Islam annahm, wurde ich natürlich weiterhin diskriminiert. Was meinen Glauben angeht, waren es meine Familie und Freunde, also die Menschen, die mich am besten kannten, die damit begannen, mich anders zu behandeln. Das reichte von der Skepsis bis zur glatten Beschimpfung. Einmal betrank sich ein Familienmitglied und begann damit, meine Religion schlecht zu machen und sagte zu mir, dass, wenn ich es sein Gerede nicht mag, ich doch sein Haus verlassen soll. Da wir zusammen aufgewachsen waren und uns sehr nahe standen, beharrte ich darauf, dass wir uns durch unsere Unterschiede im Glauben als Menschen nicht trennen lassen sollten. Das Lustige war, dass er mich trotzdem rauswarf und ich war vier Fahrtstunden von New York entfernt. In dieser Nacht habe ich auf irgendeinem Acker geschlafen. (lacht)

DAS MILIEU: Was haben eigentlich Ihre Eltern falsch gemacht, dass Sie der Religion den Rücken kehrten, die sie Ihnen mitgegeben hatten? (lacht)

Ilyas: Das ist eine gute Frage. (lacht) Meine Familie lehrte mich die Wichtigkeit von bestimmten charakterlichen Qualitäten. Das haben sie richtig gemacht. Diese Qualitäten erscheinen im höchsten Glanz im Islam. In der Tat ist der Islam eine Fortsetzung derselben Leitung, die das Christentum beinhaltet. Meine Großmutter war über 40 Jahre lang eine christliche Missionarin. Sie bereitete mich am meisten auf meine Annahme des Islams vor. Wegen ihr studierten wir im Laufe unserer Kindheit die Bibel und begleiteten sie auf ihren Missionsreisen zu verschiedenen Kirchen. Als ich den Koran kennenlernte, war ich sehr neugierig über dessen Inhalt, da die Bibel ja ziemlich deutlich von der Ankunft eines weiteren Propheten spricht, der ein weiteres Buch bringen würde, das ihm durch Gott selbst diktiert wird.

DAS MILIEU: Was hat Ihnen der Islam gegeben, was andere Religionen oder Philosophien Ihnen nicht hätten geben können?
 
Ilyas: Eine erstklassige Spiritualität. Ich glaubte schon immer daran, dass Gott zu den Menschen spricht und seitdem ich Muslim bin, habe ich endlich Gewissheit. Infolge meiner demütigen Gebete geschehen auf wundersame Weise Dinge, die all meine Schwierigkeiten beseitigen. Meine Beziehung zu Gott ist jetzt echt und nicht mehr nur ein Gefühl. Es ist eine tiefe Freundschaft und nicht mehr nur eine nachträgliche Überlegung oder eine Randnotiz.

DAS MILIEU: Der Islam wird oftmals als seine Religion der vielen Gebote und Verbote wahrgenommen. Was sagen Sie zu Menschen, die Ihrer Religion vorwerfen, die Freiheit des Menschen zu unterdrücken?

Ilyas: Ich denke, dass selbst die Freiheit der Weisheit und dem Gemeinwohl untergeordnet sein sollte. In jeder Lebensphilosophie gibt es Dinge, die man tun sollte oder nicht tun sollte. Aber der eigentliche Kernpunkt an dieser Wahrnehmung ist die freie Wahl. Islam kennt in ähnlicher Weise Gebote und Verbote wie irgendeine Stadt der Welt. Innerhalb bestimmter Sphären hat eine Person die Freiheit, das zu tun, was sie will – es ist eine Angelegenheit zwischen ihr und Gott. Allerdings sollte die individuelle Freiheit nicht die Freiheit und das Wohlbefinden der Mehrheit gefährden. Das ist der Unterschied. Es ist ganz bestimmt nicht anders in New York City!

DAS MILIEU: Hatten Sie vor dieser Erkenntnis doch irgendwo Angst vor der Entscheidung, den Islam voll und ganz zu akzeptieren, weil Sie wussten, dass Ihr Lebensstil sich ändern würde?

Ilyas: Es gibt ein altes Sprichwort: “Der Wahrheitssuchende hat keine Religion”. Darin steckt eine großartige Weisheit. Eine Religion ist ganz einfach eine Lebensphilosophie. Musiker, Sportler, Wissenschaftler usw. haben allesamt ihre eigene Lebensphilosophie. Auf der Suche nach Wahrheit wurde ich darauf vorbereitet zumindest damit zu experimentieren, welche Lebensphilosophie der Islam mit sich bringen würde. Schon vor dem Islam war ich z.B. müde geworden, jede Nacht loszuziehen, einen trinken zu gehen. Die gesundheitlichen, finanziellen und sozialen Nachteile, die mit einem solchen Lebensstil zusammenhängen, sind weithin bekannt. Dementsprechend war es für mich keine große Überwindung diese Gewohnheiten abzulegen. Der Islam spornte mich dazu an, zu Gott zu beten, die Wahrheit zu sagen, dem Heimatland gegenüber loyal zu sein, der Ehefrau und den Eltern gegenüber treu zu sein. Jeder gute Mensch liebt diese Qualitäten. Jeder gute Mensch hätte keine Schwierigkeiten damit, sich diese Qualitäten anzueignen und diese zu akzeptieren, außer er ist gar nicht gewillt, die Wahrheit anzunehmen. Aber die Liebe macht es einem alles einfacher.

DAS MILIEU: Wie reagierte Ihre Familie auf die Veränderungen durch diese neue Liebe in Ihrem Leben?

Ilyas: Zuerst haben sie sich darüber amüsiert. Im Laufe der Zeit haben sie es akzeptiert. Sie behandeln mich nicht anders deswegen und wir haben bis heute eine großartige Beziehung. Andere haben, wie bereits erwähnt, eine Hardliner-Position eingenommen. Meine Religion lehrt mich, dass ich dennoch meine Hand nach ihnen ausstrecke, mich um sie kümmere und weiterhin für sie bete. Das ist auch der Grund, warum mittlerweile die meisten meiner Familienangehörigen mit mir warm geworden sind, weil sie langsam verstanden haben, was der Islam tatsächlich lehrt und besonders, weil sie sehen können, wie diese Lehre mich zu einem besseren Menschen gemacht hat.

DAS MILIEU: Es gibt viele Menschen, die glauben, dass alle Konvertiten frustrierte Menschen sind. Welche Rolle spielte die Frustration in Ihrer Entscheidung, zum Islam zu konvertieren?

Ilyas: Ich war frustriert. Frustriert und unzufrieden mit meinem derzeitigen Lebensstil. Es ist nichts falsch daran. Viele Innovationen in der Literatur, Wissenschaft, Medizin und viele unserer gebräuchlichen Luxusgüter gibt es nur, weil irgendjemand frustriert war und sich an den bestehenden Verhältnissen störte. Erst neulich abends habe ich darüber nachgedacht, wie sich mein Leben über die letzten 10 Jahre verändert hat. Ich bin öfter zu Hause bei meiner Familie, daher fühle ich mich als ein besseres Vorbild für meinen Sohn. Meine Familie und ich sind in der muslimischen Gemeinde für karitative Zwecke engagiert, da haben wir beispielsweise allein im letzten Jahr über 340.000 Pfund für über 40 britische Hilfsorganisationen gesammelt. Ganz zu schweigen davon ist mein Kontostand viel gesünder, wo ich nicht mehr mein Geld für unnütze Angewohnheiten wie Trinken und Rauchen verschwende.

DAS MILIEU: Gut, auf der einen Seite haben Sie erlebt, wie Frustration als Antrieb zum spirituellen Fortschritt fungieren kann, doch auf der anderen Seite kann sie auch ausgenutzt werden. Glauben Sie, dass Konvertiten leichte Beute für Extremisten und Hassprediger sind?

Ilyas: Sicher. Aber ich würde nicht sagen, dass besonders Konvertiten gefährdet sind. Ich denke, dass rastlose und verunsicherte Jugendliche womöglich dazu neigen, den Extremisten und Hasspredigern auf den Leim zu gehen. Für mich arbeiten diese Menschen ähnlich wie Gangs. In den USA haben wir ein großen Problem mit Gangs und mir ist aufgefallen, dass deren Anwerbemethoden sehr ähnlich sind. Der Unterschied ist wohl, dass sie sich hinter der Religion verstecken und damit ahnungslose Menschen zu ihrer Beute werden, besonders in bestimmten Ländern, wo die Jugend Arbeitslosigkeit, Armut oder politischer Instabilität ausgesetzt ist. Manchmal finden einige andere auch zur starken Botschaft des Islam, aber weil sie durch Extremisten in entstellter Form gepredigt wird, werden diese korrupten Lehren für diese Menschen zu ihrem neuen Lebenssinn.  

Auch ich flüchtete aus den Fängen dieser Extremisten. Als neuer Konvertit lernte ich den Islam von einer Gruppe vom selben Schlag. Während sie alle Vorbereitungen trafen, um mich nach Jemen zu bringen, um dort den „Islam“ zu lernen, stieß ich in der Bank, an der ich damals angestellt war, einen anderen Muslim, der mir die Ahmadiyya Muslim Jamaat vorstellte. Gott errettete mich von den Extremisten. Letztendlich lernte ich in dieser Gemeinde den Islam kennen, wie er tatsächlich ist.

Ich persönliche finde, dass extremistische Gruppen, Hassprediger und viele Medien heutzutage in diesem Sinne etwas gemeinsam haben, dass sie alle den Islam als etwas rückschrittliches, unzivilisiertes und gewaltbereites porträtieren. Sie scheinen völlig unwissend gegenüber den Schönheiten der islamischen Lehren und dem historischen Beitrag des Islams zur modernen Zivilisation zu sein.

DAS MILIEU: Wenn Agnostiker oder Atheisten mit Muslimen diskutieren, kommt häufig eine Frage auf, die lautet: „Wie kann man überhaupt einem Buch Glauben schenken, das etwa 1.400 Jahre alt ist?“. Warum glauben Sie?

Ilyas: Das ist ja interessant! Ich lese dieses Buch jeden Tag und ich denke nur dann über das Alter des Buches nach, wenn ich auf verschiedene Prophezeiungen stoße, die sich erfüllt haben.

DAS MILIEU: Wie haben Sie vor 10 Jahren über Gott gedacht und wie denken Sie heute über Ihn?

Ilyas: Vor 10 Jahren dachte ich, dass ein Gott existieren sollte. Doch andererseits tat ich einfach, wonach mir gerade war. Der Gedanke daran, sein Wohlgefallen zu erreichen, kam mir nie in den Sinn. Seitdem ich Ahmadi Muslim wurde, die Schönheit des Korans entdeckt habe und die Bücher von dem Verheißenen Messias Mirza Ghulam Ahmad lese, kreisen meine Gedanken ständig um Gott. Immer, wenn ich etwas tue oder sage, denke ich immer darüber nach, was Gott wohl darüber denkt, was er im Koran darüber gesagt hat oder welches Beispiel der Heilige Prophet Mohammed an den Tag gelegt hat.

DAS MILIEU: Sie beten fünfmal am Tag. Gottgläubige, die anderen Religionen angehören, könnten argumentieren: „Gott ist in meinem Herzen. Ich muss doch nicht regelmäßig zu Ihm beten, um Ihm nahe zu sein“. Was würden Sie entgegnen?

Ilyas: Wenn ich zu meiner Mutter sagen würde, dass sie immer in meinem Herzen ist und ich sie nicht anrufen oder ihr schreiben brauche, dann hätte sie jedes Recht, mich auszulachen oder verletzt zu sein. Bei Gott ist das umgekehrt. Durch unser gesamtes Leben hindurch benötigen wir jemanden, der uns an gewissen Zeitpunkten beisteht: die Familie, Freunde, die Gemeinde, die Arbeit oder der Staat. Wenn am Ende alles versagt, fangen Menschen an zu beten. Dabei war Gott von jeher anwesend. Ich bete zu ihm jeden Tag, weil er mir im Alltag immer zur Seite steht. Aufgrund der Gebete und deren Beantwortung bin ich von seiner Gegenwart so gewiss, wie von der Existenz meiner Mutter.

DAS MILIEU: Wenn man mit einem Atheisten über Gott diskutiert, gelangt man zu einem Punkt, wo er häufig drei Fragen aufwirft, die ich Ihnen gerne nacheinander stellen möchte. Erstens: Wenn es einen Gott gibt, warum lässt er Leid zu?

Ilyas: Wenn es das Leid nicht geben würde, dann hätten die guten Menschen nicht die Möglichkeit, so etwas wie Mitgefühl zu entwickeln und anderen Menschen Gutes zu tun. Das alles wäre nicht möglich, wenn Gott bei jeder Gelegenheit eingreifen würde. Deshalb unterscheidet man zwischen verschiedenen Arten von Menschen. Hierdurch werden sie sich über ihren eigenen Zustand bewusst und können diesen für andere sichtbar werden lassen. Da ist ein verblüffendes System am Wirken und letzten Endes werden die leidenden und nicht-leidenden Menschen zu ihrem Schöpfer zurückkehren. Die wichtigere Frage lautet eigentlich: was hat man selbst getan, um das Leid anderer zu lindern? Der Wunsch dies zu tun, ist ein wundervoller Beweis für die Existenz Gottes. Dies ist an sich einer der Wege, wie Gott den Leidenden hilft.

DAS MILIEU: Zweitens: Wenn Gott nichts braucht, warum hat er den Menschen geschaffen?

Ilyas: Einer der großartigsten Gaben für die Menschheit ist deren Bewusstsein. Gott teilte dem Heiligen Propheten des Islams mit, dass er ein verborgener Schatz war, der entdeckt werden wollte. Jeder kann nachvollziehen, was die Freude am Entdecken und Erforschen von Schönheit ausmacht. Ganz egal wohin man schaut, der menschliche Fortschritt basiert auf dem Forschen und Entdecken der grenzenlosen Manifestationen der perfekten Eigenschaften Gottes. Menschen sind die einzigen Nutznießer, die in der Lage dazu sind, die Eigenschaften Gottes in sich zu verwirklichen.

DAS MILIEU: Drittens: Wenn Gott allwissend ist, wie kann der Mensch dann einen freien Willen besitzen?

Ilyas: Ich kann mich an eine Überlieferung erinnern, in der ein Mann Hazrat Ali, dem vierten Nachfolger des Heiligen Propheten Mohammed, dieselbe Frage stellte. Ich liebe seine Antwort! Als der Mann ihm gegenüberstand, forderte er ihn auf, ein Bein anzuheben. Als der Mann dies tat, forderte Hazrat Ali ihn auf, sein anderes Bein ebenfalls anzuheben. Beschämt sagte der Mann, dass er es nicht könne. Also agieren Menschen frei, wenn auch innerhalb der gottgegebenen Grenzen.

DAS MILIEU: Wenn jemand sich nun, wie Sie es auch getan haben, auf die Suche nach Gott machen möchte, wo fängt er an zu suchen?

Ilyas: Zuerst einmal müsste dieser Mensch alle vorgefasste Vorstellungen darüber, wo sich die Wahrheit befinden könnte, verwerfen. Dann sollte dieser zu Gott in Demut und voller Hingabe um Rechtleitung beten. Gleichzeitig sollte dieser sein Wissen durch eine ausgiebige Recherche erweitern. Gott antwortet ganz sicher auf Gebete und leitet diejenigen, die Ihn suchen.

DAS MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Ilyas!

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