Sport

Gewalt unter Fußballfans - Eine Frage der Größenordnung

15.04.2015 - Aleksandra Fedorska

Ausschreitungen unter Fußballfans beim Europapokalendspiel im Jahr 1985 kosteten 39 Menschen das Leben. Dieses tragische Ereignis rüttelte die europäische Öffentlichkeit auf und zwang die Verantwortlichen endgültig, das Problem der Gewalt in den Stadien aktiv anzugehen. Ende der 80er Jahre wurde auch Deutschland von dem Problem erfasst. 1993 entwickelten Fußballvereine und -verbände gemeinsam mit Vertretern der Politik das Nationale Konzept Sport und Sicherheit (NKSS). Das Konzept beinhaltet Maßnahmen zum Umgang mit gewaltbereiten Fußballfans, die bis heute angewendet werden. Die Erfolge dieser Maßnahmen variieren abhängig von den regionalen, organisatorischen, medialen und finanziellen Möglichkeiten der Vereine und Sportligen.

Fußball ist in Europa so verbreitet wie keine andere Sportart. Sowohl das aktive Spielen als auch das passive Zuschauen erfreut sich großer Popularität. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurden Fußballspiele in England und später auch in Kontinentaleuropa zu einer beliebten Freizeitaktivität. Für die Austragung von Spielen entstanden Anfang des 20. Jahrhunderts große Stadien, die zehntausende Zuschauer fassen konnten. Im Vergleich zu anderen Unterhaltungsangeboten wie Theaterveranstaltungen und Konzerten war der Besuch eines Fußballspiels relativ kostengünstig. Die Preise in den Stadien richteten sich schon damals nach der Ausrichtung und dem Komfort der angebotenen Plätze. Teurere Plätze befanden sich auf den Sitztribünen, mittelpreisige Plätze auf der Gegengeraden und günstige, schlecht ausgestattete Plätze hinter den Toren. Die Plätze hinter den Toren wurden vornehmlich von Arbeitern und  anderen armen Bevölkerungsschichten genutzt, die oft leidenschaftlicher und lauter für ihren Verein jubelten, als die anderen Zuschauer. In diesem Umfeld entstanden während der 20er Jahre  Fußballbegriffe wie "Abwehrschlacht", die sich gezielt eines aggressiven militärischen Vokabulars bedienten. Es wurden auch erstmals Gesänge und Sprechchöre angestimmt - eine Aktionsform, die laut dem Experten Daniel Langer nicht nur bis heute erhalten geblieben ist, sondern sich mit der Zeit sogar verstärkt hat. Die Zuschauerszene im Fußball ist seit den 20er Jahren zunehmend zersplittert. Die Zentrale Informationsstelle für Sporteinsätze (ZIS) teilt die Szene heute in drei Klassen. Kategorie A-Fans sind nicht gewaltbereit und nur am Sportereignis interessiert. Kategorie B-Fans akzeptieren  Gewalt als Begleiterscheinung des Sportereignisses. Unter bestimmten Bedingungen, z.B. unter Alkoholeinfluss, beteiligen sie sich an Gewaltakten. Kategorie C-Fans sind Mitglieder der Hooligan- oder Ultraszene. Für sie ist die Gewaltausübung ein elementarer Bestandteil des Sportereignisses.


Mit der Etablierung von Ligawettbewerben und festen Vereinsstrukturen kristallisierten sich bestimmte Charakterisierungen für die einzelnen Fußballklubs heraus. Dabei spielten neben lokalen auch soziale Verwurzelungen eine Rolle, wie etwa bei den „Bonzen“ von Arminia Hannover und  den  „Roten“ von Hannover 96. Die Herkunft der Spieler entsprach meistens der Herkunft der Zuschauer. Sie stammten aus der gleichen Region oder dem gleichen Werk, wie etwa bei der Werksmannschaft Bayer Leverkusen. Die Zuschauer identifizierten sich immer stärker mit „ihrer“ Mannschaft. Die Regional- und Sozialgegensätze zwischen den Vereinen wurden im Kampf auf dem Platz ausgetragen - eine Vorstellung, die ganz der Weltanschauung der Arbeiter entsprach, die damals die Mehrheit der Fußballbegeisterten stellten. Erst die Professionalisierung und Mediatisierung des Fußballsports seit den 50ern lockerte die enge Verbindung zwischen den Vereinen und der Arbeiterklasse auf. Die Stadionbesucher setzten sich zunehmend aus allen Schichten der Gesellschaft zusammen und die Eintrittspreise stiegen ebenso wie der Komfort und die Sicherheit in den Stadien. Günstig blieben die Plätze hinter den Toren, die nun als „Fankurven“ bezeichnet und von besonders aktiven Fans besetzt wurden. In diesem Bereich entwickelte sich eine Fankultur, die meist männliche Jugendliche anzog. Die Fankurven boten die Möglichkeit die Leidenschaft für den Verein hemmungslos auszuleben, Erfahrungen der Kameradschaft unter Gleichgesinnten zu sammeln und einem archaischen Männlichkeits- und Kriegskult zu frönen. Zeitgleich entwickelten sich die lockeren Fangruppen zu Fanclubs und Fanvereinen mit Satzungen, Organisationsstrukturen und festen Ritualen.


Die Vereine und mit ihnen der gesamte Fußballbetrieb haben sich insbesondere in den beiden Bundesligen durch die Vermarktung der Fernsehübertragungsrechte, internationale Vereinsmeisterschaften und Kommerzialisierungseffekte der Spielervermarktung extrem verändert. Die Vereine sind Betriebe geworden, die darauf angewiesen sind Gewinne zu generieren. Die Identifikation der Clubs und der Spieler mit der jeweiligen Region, dem Werk oder einer Gesellschaftsschicht ist auf der Ebene des Profifußballs nicht mehr spürbar. Die Eventkultur der großen Stadien hat dafür gesorgt, dass das Publikum der Bundesligen heute aus Familien und Vertretern der Mittelschicht besteht. Die höheren Preise, komfortableren Bedingungen und schärferen Sicherheitsmaßnahmen in den Stadien halten Jugendliche und Menschen aus bescheidenen Verhältnissen von Besuchen ab. Auch die Regionalvereine haben sich entsprechend ihrer Möglichkeiten kommerzialisiert und modernisiert. Zu solchen Entwicklungen gehören Veränderungen hinsichtlich der Eintrittsgelder und  der Organisation der Fangemeinschaft. Die Stadien werden modernisiert und umgebaut. Häufig gehen diese Maßnahmen mit Aufwertungen wie dem Bau von VIP-Lounges oder Businessseats einher. Diese Angebote erlauben es kaufkräftige Kunden ins Stadion zu locken. Ferner wird mit speziell auf Familien mit Kindern zugeschnittenen Angeboten versucht eben diese Konsumentengruppe für die Besuche von Regionalligaspielen zu gewinnen. Die Regionalligavereine arbeiten inzwischen mit modernen Marketingstrategien und versuchen sich auf dem Unterhaltungs- und Eventmarkt bestmöglich zu positionieren. Die Kampagnen für Familien gehören ebenso dazu wie eine verstärkte Selbstpräsentation als fester Bestandteil und Identifikationspunkt der Region. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang Kooperationen mit den Medien der Region. In Anbetracht dieser Bemühungen liegt es nicht im Interesse  der Vereine, dass Fans im Stadion  oder in dessen unmittelbarer Nähe illegale, gefährdende oder sogar gewalttätige Handlungen vollziehen, da diese gerade jene Klientel abstoßen, um die sich die Vereine so händeringend bemühen.


Im Gegensatz zu den Vereinen der Bundesligen sind die Vereine der Regionalligen hinsichtlich ihrer Größe, Ausstattung und organisatorischen Möglichkeiten schlecht aufgestellt. So kommt z.B. der Verein Holstein Kiel auf eine Mitgliederzahl von 1150, während der VfB Lübeck lediglich 903 Mitglieder hat. Im Vergleich dazu weisen große Bundesligavereine Mitgliederzahlen von 30.000 bis 50.000 auf. Die Verantwortlichen der DFB geben den einzelnen Ligen Vorschriften zur Größe und Ausstattung ihrer Stadien und machen von der Erfüllung dieser Auflagen die Aufnahme in die Liga abhängig. Im Fall eines Aufstiegs müssen häufig kostspielige Umbauten durchgeführt werden. Die Stadien der Regionalligen sind generell klein und relativ schlecht ausgestattet, so z.B. das Stadion in Kiel. Laut der Webseite des Kieler Vereins bietet es Platz für 11.386 Zuschauer. Von den Sitzplätzen sind 1.884 überdacht und 580 nicht überdacht. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von Stehplätzen. Die Kosten einer Tageskarte sind in den Stehplatzabschnitten mit 4 - 9 Euro ausgesprochen günstig. Dauerkarten für die gesamte Saison liegen je nach Abschnitt und Komfort zwischen 25,20 und 56 Euro. Die materiellen Folgen der Randale von gewaltbereiten Fans können den normalen Stadionbetrieb kurz- und mittelfristig beeinträchtigen. Im Rahmen einer Untersuchung aus dem Jahr 2006 schätzten Behn et al. die Zahl der Ultragruppierungen in Deutschland auf insgesamt 51. Von den 61 untersuchten Vereinen der 1. und 2. Bundesliga sowie der damaligen Regionalligen Nord und Süd hatten nur 9  keine Ultragruppen. Behn et al. fanden heraus, dass durch die Verschärfung der Strafmassnahmen und Sicherheitsvorkehrungen in den oberen Ligen ein Ausweichen gewaltbereiter Fans zu beobachten ist. Verbotene und strafrechtlich relevante Aktionen, wie z.B. das Zünden von Pyromaterial werden in die unteren Spielklassen verlagert, wo die Massnahmen lockerer sind. Folgerichtig ist anzunehmen, dass Ultragruppen auf der Suche nach günstigen Bedingungen für ihre Aktionen zwischen den einzelnen Ligen pendeln. Zudem weisen Gruppen von B- und C-Fans in den unteren Ligen im Gegensatz zu den oberen Ligen weitaus informellere Strukturen auf. Während in den oberen Ligen die meisten Ultragruppen quasi-demokratische Strukturen haben und der Mitgliedschaft ein formaler Akt mit Zugang zu Onlineforen, Richtlinienakzeptanz und der Ausgabe eines Mitgliederausweises vorrangeht, sind die Strukturen der Ultra- und Holliganszenen in den unteren Ligen verworren und intransparent. Das erschwert die Kontrolle und die Einschätzung dieser Gruppierungen enorm.


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