Gesellschaft

Gemeinsinn üben

15.02.2015 - Dr. Christoph Quarch

Einfach nur Werte zu beschwören, ist billig. Wer sich um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sorgt, muss darüber nachdenken, wie ein gemeinschaftliches Ethos vermittelt werden kann. Etwa durch die Einführung eines Bürgerdienstes.

Ob Pegida oder Papst, ob Minister oder Manager – Werte sind in aller Munde. Die einen sehen sie bedroht, die anderen wollen sie verteidigen, die dritten zu neuem Leben erwecken. So oder so versprechen sich alle allerlei Gutes von Werten. Es scheint, als ob Werte erst bedroht oder in Frage gestellt werden müssten, bevor man sich ihrer besinnt. Und das nicht erst seit den Pariser
Terroranschlägen.

 

Die neue Wertschätzung der Werte verläuft freilich recht eindimensional: Meist gilt sie allein den eignen Werten. Und gar zu oft mündet sie in der Ablehnung der Werte anderer – muslimischer Werte etwa, die dann von Pegida, Legida, AfD und Konsorten als unpassend fürs „christliche Abendland“ verunglimpft werden; oder westlicher Werte wie Bildung und Menschenrechte, die Boko Haram, Isis und anderen islamistische Terroristen in Blut ersäufen wollen. Himmel hilf! Mit den Werten ist das keine leichte Sache.


Meinungsfreiheit, Demokratie, Gerechtigkeit


Zumal oft ganz unklar ist, von welchen Werten eigentlich die Rede ist – und welche Werte verteidigt werden sollen. Aus Sicht der Regierung handelt es sich dabei um Errungenschaften wie Meinungsfreiheit, Demokratie und Gerechtigkeit. Pegida-Demonstranten nehmen für sich dasselbe in Anspruch, verstehen aus Sicht ihrer Gegner darunter aber etwas ganz anderes. Und wenn man die Deutschen nach ihren liebsten Werten befragt, bekommt man noch mal etwas anderes aufgetischt: Sicherheit, Leistung, Vertrauen – ja selbst „Abenteuer“ rangieren da auf den Spitzenrängen. Mit den Werten ist es wirklich so eine Sache…


Vielleicht hilft ja ein bisschen Reflexion. Jedenfalls könnte es den Schweiß der Tapferen wert sein, sich in einer solch aufgeheizten Atmosphäre noch einmal die simple Frage vorzulegen: Was ist eigentlich ein Wert? Offenbar doch dasjenige, was Wertschätzung erfährt, als wertvoll gilt. Aber was ist wertvoll? Nach welchen Kriterien bemisst sich ein Wert? Ist etwas schon dadurch ein Wert, dass viele Menschen es wichtig finden? Wären dann nicht alle Werte relativ auf unsere Interessen? Ist das Plädoyer für „unsere Werte“ dann nicht nur ein verkapptes Plädoyer für die eigenen Interessen? Es ist wirklich nicht so einfach mit den Werten…


In Wahrheit geht es um Machtfragen


Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass Werte in der philosophischen Ethik erst spät auftauchen. In unserer derzeit so bemühten abendländischen Tradition haben sich die Philosophen jahrhundertelang über ganz andere Themen Gedanken gemacht: über Tugenden und über das Sittengesetz, über moralische Imperative und praktikable Maximen. Aber nicht über Werte. Die treten erst im 19. Jahrhundert bei den sogenannten Neukantianern auf, einer philosophischen Bewegung, die darauf bestand, in ethischen Fragen nicht auf ewig unwandelbare Normen zu bauen, sondern deren Geltung an die Wertsetzung der Menschen zu koppeln – woraus Friedrich Nietzsche die naheliegende Konsequenz zog, eine „Umwertung aller Werte“ sei jederzeit möglich – ja nötig. „Die Werte und deren Veränderung steht im Verhältnis zu dem Macht-Wachstum des Wertsetzenden“, notierte er einmal und brachte damit die Relativität aller Werte auf die einfachste Formel.


Dies vorausgesetzt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn heute so viel Wind um die Werte gemacht wird – und dass dieser Wind aus allen möglichen Richtungen weht. Dann nämlich ist klar, dass hinter jedem Plädoyer für Werte bei Lichte besehen handfeste Interessen stehen – und dass es den Wert-Predigern weniger um Ethik als vielmehr um Macht geht: nicht darum, was wahr und gut ist, sondern was den eigenen Interessen dient. Daher sollte man Vorsicht walten lassen, wo sich Menschen als Sachwalter von Werten präsentieren. Zumal es ein billiges Spiel ist: Für Werte eintreten, kann jeder Sonntagsredner. Ein bisschen „Meinungsfreiheit“, dazu eine Prise „Demokratie“, verrührt mit „Gleichberechtigung“ und „Solidarität“ – und schon ist einem der öffentliche Beifall sicher. Aber werden diese Werte auch gelebt? Ja, lassen sie sich überhaupt leben? Das ist doch wohl die entscheidende Frage. Denn welche Wahrheit hat ein Wert, wenn er sich im Leben der Menschen nicht bewährt?


Die Frage nach dem Guten

 

Wie gesagt: Die alten Philosophen fragten nicht nach Werten. Sie fragten nach dem Guten. Und danach, wie das Gute im menschlichen Leben Gestalt annehmen kann. Der Begriff, den sie dafür prägten, heißt Tugend – auf Griechisch areté, was wörtlich „Bestheit“ bedeutet. Denn darum ging es Aristoteles, Platon und Co: herauszufinden, was die Bestheit des Lebens ist; wie wir unserer Lebendigkeit am besten Genüge leisten können; was wir tun sollten, um wahrhaft Mensch zu sein. Wer so die Sache angeht, kommt nicht auf die Idee von Werten wie „Sicherheit“, „Meinungsfreiheit“, „Leistung“ oder „Abenteuer“ zu schwadronieren. Denn das alles sind keine Tugenden – das alles sagt nichts darüber, wie man auf gute Weise Mensch sein kann. Wenngleich es viel darüber verrät, was man gerne konsumieren möchte. Es geht dabei ums Haben aber nicht ums Sein. Aber darum sollte es gehen – gerade jetzt, wo Werte in aller Munde sind. Denn bei allen Fragwürdigkeiten, die sich damit verbinden, steckt hinter der wunderlichen Wert-Konjunktur doch ein ernstes und zutiefst berechtigtes Anliegen: die Sorge um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, verbunden mit der Ahnung, dass dies etwas mit Ethik und Ethos zu tun haben könnte –was zutrifft; nur dass wir eben nicht glauben sollten, durch das gemeinsam Bekenntnis zu Werten wäre
irgendetwas für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft getan. Nicht durch gemeinsame Bekenntnisse entstehen Gemeinschaften, sondern dadurch, dass das Handeln der Menschen von denselben Tugenden durchwirkt und vom selben Ethos getragen ist. Und genau davon sind wir weit entfernt.


Den Worten Leben einflößen

 

Natürlich sind Demokratie, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung etc. wichtig und richtig. Aber wichtiger noch als das Plädoyer für diese Werte ist es, flächendeckend Verhaltensweisen und Haltungen zu vermitteln, die diesen Worten Leben einflößen: Wahrhaftigkeit, Maßhalten, Toleranz, Respekt, Mut, Achtsamkeit, Demut, Urteilsvermögen, Gerechtigkeitssinn – Seinsqualitäten, die man nur hat, wenn man sie lebt. Tugenden, die geübt und nicht gepredigt sein wollen. Und ohne die all unsere hehren Werte Schall und Rauch bleiben. Wem es wirklich um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu tun ist, der sollte mithin seinen Geist darauf verwenden, Mittel und Wege zu ersinnen, wie sich quer durch alle sozialen Schichten, ethnischen Gruppen und Altersklassen in unserem Land ein kraftvolles und wahrhaftes Ethos implementieren lässt – wie wir Tugenden des Miteinanders ausbilden, die nicht im Dienste partikularer Interessen stehen, sondern der Entfaltung wahrer Menschlichkeit dienen. Das ist gewiss schwieriger als das mantrenartige Skandieren von Werten. Denn dabei geht es ums Eingemachte: ums Leben, um Lebensgewohnheiten, um Lebenszeit. Um all dasjenige also, wo wir uns am allerwenigsten reinreden lassen.

 

Dienen lernen

 

Nur kommen wir damit nicht weiter. Vielleicht ist es an der Zeit, wenigsten probeweise die Frage zuzulassen, ob das Gemeinwesen nicht vielleicht doch den Versuch wagen darf, so etwas wie Gemeinsinn in den Herzen der Menschen zu pflanzen; ob es womöglich gar den Anspruch erheben darf, dem Einzelnen die Tugenden und Qualitäten beizubringen, die für seinen Fortbestand unabdingbar sind: demokratische Tugenden, bürgerliche Tugenden, menschliche Tugenden. Ja, ob es nicht vielleicht sogar berechtigt sein könnte, junge Bürgerinnen und Bürger jedweder Couleur in den Dienst der Gemeinschaft zu nehmen, als deren Teil sie sich solcherart erfahren könnten.
Worauf ich hinaus will? Auf einen Bürgerdienst. Den Wehrdienst haben wir abgeschafft, den Zivildienst ebenso. Beide waren nicht mehr zeitgemäß. Die Idee, junge Bürgerinnen und Bürger in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen, hat hingegen nichts von ihrer Wahrheit eingebüßt: Männer und Frauen gleichermaßen, für ein halbes oder ganzes Jahr. Es gibt genug Arbeit zu verrichten, im sozialen Bereich, im ökologischen Bereich, überall: Arbeit, die dem
Ganzen dient, die partikulare Interessen übersteigt und den Gemeinsinn fördert – jene vielleicht wichtigste und kostbarste bürgerliche Tugend, in der alles zusammenfließt, was heut nottut: Gerechtigkeitssinn, Mut, Taktgefühl, Demuth, die Fähigkeit zu dienen, Achtsamkeit, Ehrlichkeit – alles, was gut und wahr ist, ungeachtet aller menschlicher Wertsetzungen.

 

 

Christoph Quarch: "Das große Ja: Ein philosophischer Wegweiser zum Sinn des Lebens"

Goldmann Verlag, 2014, 256 Seiten

ISBN: 978-3442220908

 

 

 

Foto: © DG EMPL

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