Regisseur im Interview

Erik Poppe: "Ich habe in den letzten 30 Jahren noch nie solch eine Stille im Kino erlebt"

01.10.2018 - Patricia Bartos

Am 22. Juli 2011 wird Norwegen durch einen verheerenden Anschlag erschüttert. Der Rechtsextremist Anders Breivik ermordet in Oslo und der Insel Utøya insgesamt 77 Menschen, davon 69 Jugendliche. Der norwegische Regisseur Erik Poppe erzählt die Geschichte von Utøya in genau 72 Minuten, der Dauer des Anschlags auf der Insel, rein aus der Sicht der Opfer. DAS MILIEU sprach mit dem Filmemacher über die Interviews mit Überlebenden und Angehörigen, die grundsätzliche mediale Vorliebe für die Rolle des Täters, sowie die Frage, wie man mit Rechtsextremismus in der Gesellschaft umgehen sollte.

DAS MILIEU: Herr Poppe, Ihr neuer Film „Utøya 22. Juli“ handelt von den furchtbaren Ereignissen im Jahre 2011, bei denen auf einer Insel 69 junge Menschen, nach den Ereignissen in Oslo, getötet wurden. Wie haben Sie reagiert, als Sie an diesem Tag davon erfahren haben?

 Erik Poppe: Zu Beginn habe ich von der Explosion in Oslo erfahren und alle in Norwegen und ganz Europa waren natürlich sehr schockiert. Die Bombe war enorm und zerstörte einen Teil des Regierungsviertels (Anm. d. Red.: eine Autobombe ging nahe des Büros des Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg hoch). Im selben Moment wurde bereits hinterfragt wer das ist, der hinter dem Anschlag steckt. Als einige Zeit verging hörte man dann von den Schüssen auf der Insel, die ca. eine Stunde von Oslo entfernt ist. Es war in diesem Moment schlichtweg zu viel, die Menschen hatten Angst und waren extrem schockiert, die Diskussionen wer dahintersteckt hielten natürlich an. Ich habe diesen Abend schlichtweg als puren Horror in Erinnerung.

MILIEU: Es ist nahezu selbsterklärend, dass solche Ereignisse ein Land prägen und Wunden hinterlassen, dieser Anschlag war vermutlich einer der verheerendsten Geschehnisse in der norwegischen Geschichte. Wie haben Sie die Reaktionen seitens der Gesellschaft und Politik nach den Geschehnissen empfunden?

Poppe: Unser Premierminister hat zusammen mit dem Kronprinzen deutlich gemacht, dass, egal welche Umstände sich zeigen, Norwegen nicht beginnen wird Mauern zu ziehen, die Antwort wird eine offene Demokratie sein, wir werden sichtbar bleiben. Natürlich wollte man relativ schnell wissen, wer und welche Gründe bzw. welches Motiv dahintersteckt. Ebenso gab es schnell Überlegungen, wie man so etwas in Zukunft verhindern kann. Wir alle waren in den Tagen und Wochen danach der Meinung, dass wir, egal welche politische oder religiöse Ausrichtung jemand hat, zusammenhalten werden und versuchen solch schreckliche Ereignisse zu verhindern. Wir haben jedoch Monat für Monat die Möglichkeit nicht genutzt diesen Rechtsextremismus und Neofaschismus, den Breivik repräsentierte, zu bekämpfen und das ist eine Schande. Die Erinnerung an das Geschehene verblasste zunehmend, wenn man über das Attentat gesprochen hat waren es eher technische Aspekte wie z.B. warum die Polizei nicht früher gehandelt hat. Zu dieser Zeit war ich im Dialog mit vielen Überlebenden und Angehörigen, die ebenso besorgt waren und zum Ausdruck brachten, dass wir dieses Ereignis unter keinen Umständen vergessen dürfen und verstehen müssen was eigentlich tatsächlich am 22.Juli passiert ist. Es gibt zahlreiche Bücher, die alle die Geschichte von Breivik erzählen, aber wir wissen kaum etwas über die Opfer und damit derjenigen Personen, denen die Geschichte gehört. Mit Unterstützung der Hinterbliebenen begann ich den Versuch der Rekonstruktion und Reflektion dessen was wirklich geschah.

MILIEU: Also lag ihre Motivation bei dem Versuch den Blickwinkel der Opfer darzustellen und wegzugehen von der Tendenz in Film und Medien, immer den Täter in den Fokus zu stellen?

Poppe: Ganz genau.

MILIEU: Hatten Sie jemals Angst oder Sorge, dass Sie die Geschichten der Opfer evtl. zu offen und sichtbar für die Allgemeinheit machen, sodass dahingehend die Gefahr besteht, dass die Schicksale verharmlost werden?

Poppe: Nein, diese Sorge hatte ich nie. Die Art und Weise, wie wir diese Geschichte gemeinsam aufgebaut haben, basiert auf Fiktion, die geprägt ist von den zahlreichen Interviews mit Überlebenden und Angehörigen. Wir haben die Geschichte im engen Dialog mit den Betroffenen entwickelt, diese wussten auch genau an was ich arbeite und gaben mir volle Freiheit die Thematik so zu behandeln, wie ich dachte, dass es wichtig und notwendig ist. Die Geschichten können nicht rein durch Worte verstanden werden. Es war notwendig zu sehen, ob ein Film das ausdrücken konnte was passiert war, vor allem wenn die Worte in der Wirkung an ihre Grenze stoßen.

MILIEU: Sie haben eben erwähnt, dass Sie sehr viel Zeit mit den Überlebenden verbracht und diese ihre Geschichte erzählt haben. Was war für Sie der beeindruckendste Moment in dieser Phase der Filmproduktion?

Poppe: Es gab einen sehr wichtigen Moment. Als ich mein Projekt beschrieben habe kam eine Mutter zu mir, die Sorge hatte, dass man aus dieser Geschichte einen Film macht, der in den Kinos zwischen Schokolade und Popcorn gezeigt wird und Menschen ein – und ausgehen, wie bei jedem gewöhnlichen Film. Als ich ihr erzählte wie ich die Geschichte zeigen möchte, nämlich nur aus der Sicht der Opfer, meinte sie, dass sie immer noch besorgt ist und sagte dann folgendes: „Ich möchte Ihnen nur eines sagen: wenn Sie in irgendeinem Moment die Geschichte mit Hoffnung, Liebe und romantisierenden Effekten schmücken werde ich Ihnen das nie verzeihen, denn dann haben Sie auf Kosten meiner getöteten Tochter reines Entertainment erzeugt. Wenn Sie das machen, wird Sie das für den Rest Ihres Lebens verfolgen.“ Was sie sagte war sehr wichtig. Wenn man diese Geschichte nicht so ehrlich wie möglich erzählt und nicht zeigt was tatsächlich passiert ist, nämlich das Ermorden von jungen Menschen, dann wird der Film nie funktionieren. Ich brauchte Unterstützung und involvierte deswegen Angehörige und Überlebende in die komplette Produktion des Films, sodass sie mich wieder auf den richtigen Weg bringen konnten, falls man vom Grundgedanken der Geschichte abkommt.

MILIEU: War dies auch der Hauptgrund Ihrer Entscheidung jegliche Musik wegzulassen und die vollen 72 Minuten ohne einen einzigen Schnitt zu zeigen?

Poppe: Was viele Menschen ausgedrückt und alle Interviews gemeinsam hatten, waren die Relevanz dieser 72 Minuten, die das Massaker andauerte. Diese Minuten waren eine Ewigkeit und es hörte nie auf. Ich realisierte, dass ich den Faktor Zeit nahezu als eigenen Charakter präsentieren muss. Deswegen ging ich ein bisschen tiefer und suchte einen Weg die Zeit richtig zu gestalten, denn Zeit als Element ist in einem Film sehr schwer darzustellen. Der einzige Weg, dass zu erreichen, war den Film in nur einem Schnitt zu zeigen. Ich habe viele Filme gesehen, die ebenso mit diesem Mittel arbeiten, so kompliziert ist es also nicht. Ich habe den Produzenten jedoch gesagt, dass ich das in der Promotion und im Marketing nicht als Fokus haben möchte. Ich wollte dies also z.B. nicht auf dem Filmplakat stehen haben. Worüber wir wirklich reden sollten ist die Thematik und warum wir das gemacht haben und was es bedeutet, die Technik ist da zweitrangig. Natürlich akzeptiere und respektiere ich, dass Sie als Journalistin mir diese Frage stellen. Wir wollten damit die Zuschauer reinholen, sodass sie die Zeit fühlen, jede Minute und Sekunde. Das war die Lösung, zu der ich relativ schnell kam, während das Skript sich sogar noch entwickelte.

MILIEU: Wie war diese Situation für die Schauspieler? Es benötigt sehr viel Sensibilität und Mut um solch eine Rolle anzunehmen und diese vorzubereiten. Wie haben sie sich vorbereitet?

Poppe: Die Herausforderung lag darin Talente zu finden, die stark genug waren um die schwierigen Rollen zu präsentieren, vor allem war es schwer Kinder zu finden. Wir haben ein halbes Jahr nach jungen SchauspielerInnen in ganz Norwegen gesucht. Schließlich habe ich Andrea Berntzen, die Hauptdarstellerin, die „Kaja“ spielt, gefunden und da hatte ich das Gefühl, dass es klappen könnte. Aber ich brauchte fast drei Monate Probe mit den jungen Kindern und Jugendlichen, da ich mir nicht irgendeine Form von Improvisation erlauben konnte, die die Kontrolle über die Geschichte schwinden lässt. Ich habe auch sehr früh Psychologen mit an Bord geholt, die bei den Proben dabei waren und auch während der Filmproduktion halfen. Es gab sehr viel psychologische erste Hilfe für die SchauspielerInnen.

MILIEU: Sie zeigen den Täter, Anders Breivik, im Grunde gar nicht. Wie intensiv haben Sie sich trotzdem mit ihm bzw. der Rolle des Täters auseinandergesetzt, um die Rolle der Opfer so gut wie möglich zu gestalten? Besser gefragt: wie stark sind Opfer und Täter in der Erzählung solch einer Geschichte verbunden?

Poppe: Man fühlt seine Präsenz die ganze Zeit. Ich wollte ihn so präsentieren, wie die Menschen auf der Insel ihn wahrgenommen haben. Für eine sehr lange Zeit während des Massakers dachte man, dass mehrere Leute angreifen, dieses Gerücht breitete sich schnell aus. Ich wollte ihn nicht explizit  zeigen, aber ich wollte ihn so zeigen wie die Opfer ihn wahrgenommen haben. Das war eben aus der Distanz heraus, da sie sich versteckt haben, genauso wie es der Film und die Kamera stilistisch auch tut. Ich wollte die Gewalt nicht weglassen und schauen, ob ich die Zuschauer re-sensibilisieren kann durch das Zeigen von Gewalt durch Geräusche, z.B. der Klang der Waffe, die immer näherkommt. Das Geräusch von jungen, schreienden Menschen, die um ihr Leben zittern. Das war die Geräuschkulisse auf der Insel für die kompletten 72 Minuten. Das ist eine Darstellung von Gewalt, die sehr ehrlich und realistisch das erzählt, was die Opfer erlebt haben.

MILIEU: Vor allem in den Medien wurde nach dem Anschlag viel über das Motiv und den ideologischen Background von Breivik, der geprägt war von Rechtsextremismus und Islamophobie, diskutiert. Nahezu überall in Europa nimmt der Rechtsextremismus und rechte Parteien an Stimmen zu (Ungarn, Österreich,...) Was denken Sie sind die Hauptgründe dafür?

Poppe: Ich bin kein Spezialist auf diesem Gebiet. Aber als europäischer Bürger bin ich sehr beunruhigt. Als ich den Film zum ersten Mal in Berlin präsentiert habe gab es Reaktionen, die sehr nachvollziehbar waren. Es wurde mir gesagt, dass der Film zwar sehr stark sei, man aber jedoch keine Vorstellung davon bekommt, wer der Täter war. Was ich dann gemacht habe ist, dass ich die Präsentation im Text vor und nach dem Film geändert habe, in dem ich meine tiefste Besorgnis über diesen Rechtsextremismus zum Ausdruck bringe. Ich dachte, dass das eine vernünftige Reaktion darauf ist. Ich denke dennoch, dass wir uns in Filmen immer mit dem Terroristen oder Täter auseinandersetzen, es scheint aber niemanden zu bewegen. Deswegen habe ich versucht die Geschichte aus der Sicht der Opfer zu erzählen um zu schauen, ob die Menschen dann endlich wütend und traurig werden, sodass sie dann als Publikum rausgehen und beginnen zu diskutieren, was man tun kann um solche Ereignisse zu verhindern.

MILIEU: Sie haben eben gesagt, dass viele Menschen Sie gefragt haben warum Anders Breivik nicht näher gezeigt wird. Warum denken Sie gibt es immer eine gewisse Form von Gier nach mehr Wissen über den Täter?

Poppe: Ich denke Neugierde ist ein wichtiger Faktor. Aber es hilft uns auch zu verstehen was passiert ist und bringt uns zu Diskussionen wie man sowas verhindern kann oder wer diese Leute sind, die so etwas machen. Ich denke nicht, dass es falsch ist sich damit auseinanderzusetzen wer das ist und warum er das getan hat. Aber es scheint nichts zu verändern, es unterhält uns eher und weckt unser Interesse, wir verfolgen solche Geschichten wie einen Thriller. Deswegen wollte ich sehen, ob eine Geschichte rein auf die Opfer fokussierend Reaktionen beim Publikum hervorruft. Nach der Premiere in Norwegen und dann Skandinavien hat man gesehen, dass viel diskutiert wurde und die Medien und Zuschauer begonnen haben zu hinterfragen, was man tun kann und was wir auch tun müssen, um einen neuen Breivik zu verhindern. Man kam zu dem Schluss, dass das eine Frage von Menschen innerhalb unserer Gesellschaft ist und was wir an Meinungen erlauben. Viele Menschen würden vermutlich noch leben, wenn wir diesem Mann erlaubt hätten seine Meinung zu äußern, selbst wenn er etwas sagt, was ich absolut schlecht finde. Er ist Teil der Gesellschaft und braucht eine Stimme, die man jedoch unterdrückt hat, woraufhin er began seine verrückten gewaltvollen Ideen in die Tat umzusetzen.

MILIEU: Also denken Sie, dass es besser ist sich auf Meinungsfreiheit zu fokussieren, sodass auch die Meinung von Menschen mit extremistischen Ansichten geäußert werden darf?

Poppe: Meine persönliche Meinung ist, dass man diesen Menschen begegnen sollte, deren Argumente trifft und mit ihnen diskutiert. Viele Äußerungen sind gesetzlich nicht erlaubt und ich möchte diese Gesetze auch nicht ändern, aber man muss diesen Menschen mit Worten und Argumenten begegnen. Ich denke das Faktum, dass jemand das Gefühl hatte seine Meinung nicht äußern zu können, woraufhin er diesen furchtbaren Akt geplant hat, ist etwas wo wir alle verlieren und das ist eine Gefahr für unsere Demokratie.

MILIEU: Sie haben mit Sicherheit sehr viel Aufwand, Mühe und Leidenschaft in diesen Film gesteckt. Ist es der gewünschte Effekt, dass Menschen beginnen nachzudenken und zu diskutieren was man dagegen tun kann?

Poppe: Ich denke das ist die Aufgabe von Kunst. Für was haben wir Kunst, wenn wir sie nicht benutzen können um Fragen zu stellen und Menschen zu provozieren darüber nachzudenken. Ein Film ist eine Form von Kunst, die nicht viel Freiheit besitzt, da sie sehr teuer ist, da kann man sich fragen inwiefern Kunst hier noch übrigbleibt. Ich denke dennoch, dass ein Film als eine Form von Kunst funktionieren kann, die unsere Stimme erhebt und Fragen stellt. Das hat sich zumindest in Skandinavien herausgestellt. Menschen sind ins Kino, an den Popcornständen vorbeigegangen, haben sich hingesetzt und den Film komplett ruhig bis zum Ende angesehen, Kinobesitzer und Besucher erzählten, dass sie in den letzten 20 bis 30 Jahren nie solch eine Stille im Kino erlebt haben. Niemand hat das Kino bis zum Ende des Abspanns verlassen, außer diejenigen, denen es zu viel wurde und die den Saal verlassen mussten, was ich natürlich auch voll respektiere.

MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Poppe!

 

 

Foto: Erik Burås

Aus dem Englischen übersetzt von Patricia Bartos

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