Abtreibung

Eine Frage der Interpretation

01.08.2022 - Daniela Ribitsch

Opa und Vati liebten hitzige Diskussionen miteinander zu den verschiedensten Themen. Beide bemühten sich sehr, den anderen davon zu überzeugen, mit der eigenen Meinung im Recht zu sein. Da keiner von beiden jemals nachgab, bestand Opa immer darauf: „Fragen wir doch einen Dritten.“ Er war überzeugt davon, eine zufällige dritte Person würde ihn zum Diskussionssieger erklären. Was aber, wenn diese dritte Person ihm nicht recht geben würde? „Dann fragen wir einfach einen anderen Dritten“, löste er das Problem. Grinsen Sie nur, liebe LeserInnen. Meine Familie und ich lachten auch immer, wenn er das sagte. Einfach eine Person nach der anderen fragen, bis endlich jemand Opas Meinung teilte und somit „bewies“, dass er recht hatte. Opa war wirklich ein toller Kerl, doch in diesem Punkt war er hoffnungslos stur.

Aber ich selbst sollte wohl nicht zu viel grinsen. Denn wenn ich argumentiere, ignoriere auch ich großzügig Dinge, die meiner Ansicht widersprechen, und picke mir stattdessen jene Aspekte heraus, die meine Argumente bestärken. Und wenn wir ehrlich sind: Wir alle machen das so.

Michael Blume argumentierte in seinem Artikel „Abtreibung: Bin #ProChoice weil ich monistisch, religiös und rechtlich #ProLife bin“ in der Juli-Ausgabe des Milieus für das Recht auf Abtreibung. In der Bibel, so begründete er sein Argument, fänden wir weder ein „völliges Abtreibungsverbot“ noch einen „biblischen Satz wie ,Abtreibung ist Mord’“. Dafür aber stehe in Thora, 2. Moses 21, 22, dass derjenige, der den Abgang eines ungeborenen Kindes verschulde, nicht des Mordes oder der fahrlässigen Tötung angeklagt werde, sondern lediglich mit einer Geldbuße „den Schaden am Besitz des Mannes“ begleichen müsse.

AbtreibungsgegnerInnen kennen diese Argumentation freilich – und lassen sich von ihr nicht beeindrucken. Sie entgegnen etwa, dass die korrekte Übersetzung des hebräischen Textes keineswegs vom Tod des Ungeborenen spreche, sondern nur von einer Frühgeburt. Auch müsse es kein ausdrückliches Abtreibungsverbot in der Bibel geben, um zu wissen, dass Abtreibung moralisch verwerflich sei. Denn die Bibel verurteile das Töten von Unschuldigen. Zudem zeigten genügend Stellen in der Bibel, dass das menschliche Leben von Gott geschaffen werde, bereits im Mutterleib beginne und Kinder ein Geschenk seien. Und damit sind wir bei einem fundamentalen Problem angekommen: Die Worte der Bibel werden von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich interpretiert.

Sehen wir uns z. B. Genesis 1:26-28 an. Hier befiehlt Gott den Menschen, über die Erde und ihre Lebewesen zu herrschen. Wie ein Blick auf die heutige Welt zeigt, interpretieren wir Menschen „herrschen“ als Synonym für „ausbeuten und missbrauchen“. Wir sperren nichtmenschliche Lebewesen ein und verändern ihre Gene, damit sie mehr Milch, Eier und Fleisch in weniger Zeit auf Kosten ihrer Gesundheit für uns produzieren. Andere Lebewesen wiederum verwenden wir für Experimente, die wir niemals an Menschen durchführen würden. Und wir reißen völlig sorglos die Ressourcen unseres Planeten an uns und hinterlassen als Dank Zerstörung. Alternativ dazu könnten wir doch auch „herrschen“ als Gottes Befehl verstehen, uns um alle nichtmenschlichen Lebewesen und unsere Erde zu kümmern. So wie Jesus sich den Schwachen und Wehrlosen annahm, könnte Gott uns Menschen dazu auserwählt haben, uns um seine nichtmenschliche Schöpfung mit ganz besonderer Sorgfalt zu kümmern. Persönlich bevorzuge ich diese unpopuläre zweite Interpretation, da ich mir sehr schwer damit tue zu glauben, ein wahrhaft gerechter und liebevoller Gott würde es wollen, dass wir Menschen so grausam zu seiner Schöpfung sind.

Die unbequeme Wahrheit ist leider, dass wir jene Informationen herausfiltern, die unserer Ansicht und Haltung entsprechen, und diese Informationen auch noch so interpretieren, dass sie unsere Weltansicht bestätigen. Diese Neigung scheint uns Menschen innezuwohnen, denn wie gezeigt werden konnte, werden auch WissenschaftlerInnen, die ja nach Objektivität streben, von ihrer individuellen Haltung und Weltansicht beeinflusst und interpretieren daher identische Forschungsdaten unterschiedlich. Beim Verstehen eines Textes müssen wir also immer unsere natürliche Voreingenommenheit berücksichtigen. Und wortwörtlich sollten wir Texte auch nicht nehmen. Thora, 2. Moses 21, 22 etwa sieht eine Geldbuße für den Mann vor und nicht für die Frau, die das Kind verliert. Damals war es freilich so, dass Frauen den Männern untergestellt waren und der Verlust eines Kindes als ökonomischer Schaden für den Mann verstanden wurde. Doch würden wir diese Stelle wortwörtlich in unser 21. Jahrhundert übernehmen, müssten wir wohl zu einer Gesellschaft zurückkehren, in der die Männer die Frauen dominierten. Wir müssen also immer auch die Zeitperiode berücksichtigen, in der der Text verfasst wurde, und den Text im Kontext unseres 21. Jahrhunderts interpretieren. Dies gilt ebenso für die Interpretation von Genesis 1:26-28. Als Gott die Welt schuf und uns Menschen die Herrschaft über seine Schöpfung anvertraute, hatten wir noch keine Technologie, mit der wir die Erde in so großem Stil hätten ausbeuten können, wie wir es heute tun, wo wir zur Deckung unseres menschlichen Bedarfs schon fast ein zweite Erde brauchen. Auch waren wir damals noch nicht in der Lage, diese unfassbar hohe Anzahl an nichtmenschlichen Lebewesen einzusperren und sie genetisch nach unseren Wünschen zu verändern, wie wir es heute tun. Allein in Deutschland sind es Millionen Nutz- und Versuchstiere.

Sie stimmen mir vielleicht zu, liebe LeserInnen, dass das Leben viel zu komplex ist, um uns so einfach auf die Bibel berufen zu können. Diese dient eher als Richtlinie und nicht als eindeutige Anweisung. Und gerade weil das Leben so komplex ist, sollten wir eine zufällige dritte Person fragen, wie es Opa immer wollte. Natürlich wollen wir diese Person nicht deswegen fragen, um unsere Weltansicht bestätigt zu sehen. Im Gegenteil. Wir wollen von dieser dritten Person aus unserem sicheren Hafen herausgeholt werden und sowohl Texte wie die Bibel, als auch andere komplexe Themen in einem anderen Licht erfahren. Selbstverständlich ist das unangenehm. Ich erlebe das jeden Tag, weil mein werter Gatte grundsätzlich immer anderer Meinung ist. Das macht wahnsinnig, denn freilich will ich hören – wie schon Opa und Vati –, dass ich recht habe. Aber seine Einwände sind furchtbar gesund, weil sie mich zum Innehalten und Nachdenken bringen.

Seine Einwände sind allerdings nur dann fruchtbar, wenn ich ihm aufmerksam zuhöre. Und das ist leider alles andere als einfach. So wie sich die Welt entwickelt, muss unser Gehirn eine wahre Flut an Informationen in immer kürzer werdenden Zeitabständen verarbeiten. Da heutzutage also mehrere Dinge gleichzeitig um unsere Aufmerksamkeit buhlen, verlernen wir die Kunst, einfach nur dazusitzen und unsere volle Aufmerksamkeit einer einzigen Geschichte zu schenken. Aktives Zuhören erfordert Zeit, Geduld und Mühe. Es bedeutet, der sprechenden Person volle Aufmerksamkeit zu schenken, ohne dabei mit den eigenen Gedanken beschäftigt zu sein und schon darauf zu warten, das Gespräch endlich an sich reißen zu können. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie furchtbar schwierig das teilweise ist, v. a. wenn unsere Gesprächsperson anderer Meinung ist und es uns daher so gar nicht interessiert, was sie uns da erzählt.

Trotzdem sollten wir uns bemühen, aktiv zuzuhören. Denn wenn wir nur mit halbem Ohr hinhören, hören wir nicht alles, was die andere Person sagt, und ergänzen die fehlenden Informationen selbst - oftmals falsch. Das kann in noch mehr Missverständnissen, Zorn und Konflikten münden. Nur wenn wir einander auch tatsächlich zuhören, nehmen wir die eigentlichen Worte der anderen Person bewusst wahr und können ihren Standpunkt besser verstehen.

Ich möchte Sie dazu ermutigen, sich die Zeit zu nehmen und genau zuzuhören. Konzentrieren wir uns auf das, was die andere Person tatsächlich sagt. Ja, das wird wahrscheinlich  anstrengend sein und unsere Geduld strapazieren. Doch durch aktives Zuhören lassen sich nicht nur Missverständnisse aufklären und Streit verhindern, sondern es ermöglicht uns zudem, andere Sichtweisen kennenzulernen und besser zu verstehen. Denn nur wenn wir einander zuhören und offen für andere Interpretationsmöglichkeiten sind, können wir gemeinsam Antworten auf komplexe Themen wie Abtreibung, unsere Beziehung zu nichtmenschlichen Lebewesen und unserer Erde sowie Klimawandel, Energie- und Ressourcenknappheit, Artensterben und Corona finden.

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