Terrorismus

Ein Anschlag auf europäische Werte?

15.01.2015 - Tahir Chaudhry

„Allahu Akbar“ schrien die Pariser Attentäter als sie um sich schossen und fast reflexhaft nannte es Bundeskanzlerin Merkel einen barbarischen Anschlag auf europäische Werte. Tatsächlich war es aber auch ein Anschlag auf islamische Werte. Doch in dieser emotional hochgebürsteten Gemengelage werden Muslime, die in diesem mörderischen Akt ihre eigene Religion nicht wiedererkennen, als Beschwichtiger und Apologeten beschimpft. Der unentschiedene Bürger droht langsam, aber sicher den Überblick zu verlieren. Er ist verwirrt und zwiegespalten. Entweder wird er jetzt vor den Terroristen auf die Knie gehen oder er wird den Islamhassern auf den Leim gehen.

Kommt der langersehnte Kulturkampf?

Als Bundespräsident Gauck voller Stolz in unserem Namen „Wir sind Charlie!“ proklamierte, handelte er wie Millionen andere in der westlichen Welt getrieben von Panik. Es ist die Panik vor dem Verlust unserer Freiheiten, würden die verletzenden Karikaturen nicht verteidigt werden. „Jetzt erst recht!“ sagen sich selbsternannte Wächter unserer Freiheit und fordern eine massenhafte Produktion solcher Karikaturen. Fast zwanghaft wird mittlerweile die Beschimpfung einer Religion gefordert, ohne zu berücksichtigen, dass es nach wie vor auch die Freiheit gibt, auf diese Beschimpfungen zu verzichten. Aber wer will denn schon, dass die Terroristen „siegen“? Leider ist den wenigsten bewusst, dass sie sich bereits auf das Spiel der Terroristen eingelassen haben, wenn sie sich als Gesellschaft spalten lassen und damit denjenigen unter die Arme greifen, die vom Morden leben und über ihre Gewaltexzesse weitere Mitglieder anwerben. Auch tun sie den Terroristen einen Gefallen, wenn sie im Kampf zur Verteidigung ihrer Freiheit paradoxerweise dieselbe Freiheit opfern, indem sie die Gesetze verschärfen und die Überwachung verstärken.

Derweil heißt es fatalerweise, je stärker die Zügellosigkeit der Spötter, desto qualitativ hochwertiger die Demokratie. Allerdings fußt unser Frieden in Freiheit nicht auf dem Fundament der hemmungslosen Diffamierung durch die Kunst der Satire, sondern wurde eher auf Basis wohlwollender Toleranz und des gegenseitigen Respekts errichtetet. Es ist ein logischer Fehlschluss zu glauben, dass es der Satire um Meinungsfreiheit oder die Wahrheit ginge. Zunächst will Satire den Lacher und das Lächerlichmachen um jeden Preis. Sie mag in vielen Fällen eine wichtige Botschaft in überspitzter Form in sich tragen, doch sie kann in anderen Fällen leicht benutzt werden, um von dem Recht auf freie Meinungsäußerung unangemessen Gebrauch zu machen. Mit Charlie Hebdo setzt sich der Hass die Maske der Kunst auf und mit den Attentätern der Terror die Maske einer Religion. Letztlich wurde Hass mit Gewalt bekämpft.

Seit Jahren veröffentlicht das Satiremagazin rassistische Karikaturen. Wiederholt kam es zu Angriffen gegen den Islam und den Propheten Mohammed, die weit unter die Gürtellinie gingen. Im Jahre 2008 behauptete der bekannte Zeichner Siné, dass der Sohn des damaligen französischen Präsidenten Sarkozy angeblich aus finanziellen Gründen zum Judentum konvertieren wolle. Der damalige Chef Philippe Val feuerte Siné mit der Begründung, Antisemitismus geschürt zu haben, und das, obwohl dieser vor Gericht einen Freispruch erhalten hatte. Die Doppelmoral wurde deutlich, als 2013 ein französischer Muslim Charlie Hebdo aufgrund der Titelseite verklagte, auf der geschrieben stand "Der Koran ist scheiße: er hält keine Kugeln ab". Die Kläger wurden daraufhin als „Islamisten“ verhöhnt und erhielten eine Lektion in Sachen freie Meinungsäußerung.

Der Terror trägt eine islamische Maske

Aus Solidarität bringen nun viele europäische Medien Karikaturen von Charlie Hebdo. Ist das nun ein 1:0 für die Satire? Wenn ja, müssten die Attentäter so blöd gewesen sein, dass sie nicht bedacht haben, dass mit dem Mord an den Zeichnern unzählige weitere westliche Zeitungen die Karikaturen abbilden würden. Es war sicherlich ein kalkuliertes Attentat auf das französische Satiremagazin, bei dem es angeblich darum gehen sollte, den Propheten zu rächen. Dabei ging es ganz offensichtlich weder um Satire noch um den Islam. Es ging ihnen um die Vertiefung des Grabens zwischen dem Westen und der islamischen Welt. Angespornt durch den Tiefschlag machen sie sich jetzt für ihren langersehnten Bürgerkrieg bereit. Sie lachen sich wohl ins Fäustchen, da es ihnen gelang uns einzureden „Hasst den Islam!“.

Daher ist es in diesen Zeiten umso wichtiger zu verkünden, dass es auch islamische Werte waren, die durch das Attentat mit Füßen getreten wurden. Denn es gibt keinen einzigen Vers im Koran, der die Blasphemie unter Strafe stellen würde. Auch die radikalen Kleriker der islamischen Welt wissen, dass allein Gott das Recht für sich beansprucht, über die Spötter zu urteilen. Im Koran werden Muslime lediglich dazu aufgefordert: „Wenn ihr hört, dass die Zeichen Allahs geleugnet und verspottet werden, dann sitzet nicht bei ihnen (den Spöttern), bis sie zu einem anderen Gespräch übergehen; ihr wäret sonst wie sie.“ (4:141) Der Prophet Mohammed wurde selbst der Blasphemie bezichtigt als er im 6. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel den einzigen Gott predigte. Erzürnte Mekkaner sahen seine Botschaft als Verschmähung ihrer eigenen Götter an. Sie verhöhnten, folterten und töteten Muslime fast 13 Jahre lang in Mekka. Aber auch später, als der Prophet nach der Auswanderung nach Medina siegreich in seine Heimatstadt zurückkehrte, wurde er immer wieder schwer beschimpft, vergab den Spöttern und hielt seine Gefährten davon ab, diese auch nur anzurühren.

Nach islamischer Auffassung waren die Pariser Attentate ein mehrfacher Anschlag auf die Menschheit, denn es heißt im Koran: „Wenn jemand einen Menschen tötet […] so soll es für ihn sein, als hätte er die ganze Menschheit getötet.“ (5:33) Die Mörder waren nicht nur Feinde der freiheitlichen Werte, sie waren zuallererst die Feinde der Menschheit. Die Sinnlosigkeit dieser Tat wird deutlich, wenn man sich die Frage stellt: „Was bringt es, Menschen durch Gewalt zum Schweigen zu bringen, wenn Haltungen sich nicht ändern? Respekt, Ehre, Liebe und Wertschätzung kommen nur vom Herzen und können nicht erzwungen werden. Trotzdem darf niemand den Muslimen das Recht sich zu empören absprechen. Die verletzende Wirkung der Karikaturen potenziert sich aufgrund des generellen Umgangs mit dem Islam. Muslime könnten also sicher gelassener reagieren, wenn sie nicht im Allgemeinen das Gefühl hätten, in westlichen Gesellschaften als Fremdkörper zu gelten.

Wir sollten nicht Charlie sein

Nicht nur radikale Islamisten schlagen aus dem hochemotionalen Klima Profit, auch alle rechtsextremistischen Bewegungen in Europa. Und so scheint es, als hätte die deutsche PEGIDA-Bewegung in den Toten von Paris ihre ersten Märtyrer gefunden. Wenn dann herausgekramt wird, dass der Chef des Magazins voller Pathos formulierte „Ich will lieber stehend sterben, als kniend weiterleben“, haben wir es nicht unbedingt mit der Sehnsucht nach dem publizistischen Heldentot zu tun, sondern vielmehr mit einer offenen Selbstverherrlichung und gefährlicher Heroisierung. Der Ausspruch wird sicher zum Schlachtruf all derer werden, die – warum auch immer - jetzt auch gern „Charlie“ sein möchten und sich durch die Thesen der Islamhasser bestätigt fühlen. „Das wird man doch wohl sagen dürfen!“ wird die Floskel bleiben, die Massen emotionalisiert, mobilisiert und in die Falle der anti-islamischen Scharfmacher laufen lässt. Damit geht ein Rechtsruck durch Europa, der mit der Äußerung falscher Behauptungen und realitätsfernen Ängsten begann, verallgemeinernde Hetze nach sich zog und schon bald durch gezielte Radikalisierung in gewaltsamen Übergriffen münden wird. Aus Frankreich wurden bereits die ersten Angriffe auf muslimische Einrichtungen gemeldet.

Für die abscheuliche Tat gibt es keinerlei Rechtfertigung, eine Erklärung gibt es schon. Traurig im Umgang mit den Terroranschlägen in Paris ist die fehlende Selbstkritik des Westens und die weithin verschwiegene Verknüpfung zwischen dem islamistischen Terror und der komplexen geopolitischen Lage im Nahen Osten. Der radikale Islamismus ist keine hundert Jahre alt, denn er breitete sich erst als Reaktion auf Fremdherrschaft aus. Die Erinnerung an die Kolonialisierung, das ständige Gefühl der Demütigung durch den Westen und die anhaltende Perspektivlosigkeit sind der Humus, auf dem der islamistische Terrorismus gedeiht. In der Tat haben westliche Regierungen jahrzehntelang durch ihre Fehler in der Außenpolitik zu den Konflikten dieser Welt beigetragen. Entgegen verbreiteter Panikmache geschah der Pariser Anschlag nicht aus dem Grund, dass wir in Europa frei leben. Er geschah auf Einladung. Jeder Vorwand, der einen Militärschlag rechtfertigte, jedes Gebiet, das im Namen des Anti-Terrorkampfes besetzt wurde, jeder Diktator, der bei der Unterdrückung seines Volkes unterstützt wurde, jede Waffe, die blind an Drittstaaten geliefert wurde, und jede Drohne, die unschuldige Zivilisten traf, waren eine Einladung für einen Racheakt an der westlichen Zivilisation.

Vor diesem Hintergrund braucht es mehr Selbstkritik gegenüber der verfehlten Außenpolitik des Westens in der islamischen Welt und eine Renaissance einer Kultur der gegenseitigen Anerkennung. Für Terrorismus und Fremdenhass gibt es keine Rechtfertigung. Zwar ist jetzt die Zeit für Härte in der Verurteilung und Verfolgung der Extremisten, aber auch die Zeit für mehr Gelassenheit im Umgang mit dieser Herausforderung. Der Westen hat Angst, doch Angst ist immer ein schlechter Beweggrund, um aktiv zu werden. Angesichts des drohenden Kulturkampfes in Europa müssen wir zusammenstehen. Das können wir erst, wenn wir jeden Fanatismus und jede Ungerechtigkeit als unser aller Problem begreifen. Gerade in einer Zeit der Emotionalisierung ist es mehr denn je notwendig, vernünftig und besonnen zu reagieren und sich nicht von Provokateuren und Hetzern instrumentalisieren zu lassen.

 

 

 

Foto: © European External Action Service

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