Eine Frage des MILIEUs

"Droht uns eine Islamisierung?"

01.06.2016 - Dr. Michael Blume

Wenn mit Islamisierung gemeint ist, dass „der Islam“ weltweit an Prägekraft gewinnt, ohne seinerseits zum Beispiel durch „Säkularisierung“ und „Verwestlichung“ betroffen zu sein – dann lautet die Antwort ganz klar: Nein, es gibt eine gegenseitige Durchdringung von Kulturen und Religionen, aber keine einseitige „Islamisierung“!

Selbstverständlich wird der Islam in Europa sichtbarer, errichten langjährig ansässige, muslimische Gemeinden etwa Moscheen, wird (endlich!) auch islamischer Religionsunterricht an europäischen Schulen angeboten u.v.m. Aber gleichzeitig finden eben auch innerislamisch massive Säkularisierungsprozesse statt: Nur noch eine Minderheit der Muslime in Europa betet täglich, geschweige denn 5mal täglich. Tatsächlich wird hier ein noch ungelöstes Problem der Religionssoziologie deutlich: Als „Christ“ wird gezählt, wer getauft wurde und einer Kirche angehört; entsprechend werden etwa sinkende Taufzahlen und Austritte auch statistisch sichtbar. So verzeichnen internationale Studien etwa des Pew-Instituts korrekt den globalen Übergang von jährlich Millionen Christen in die Konfessionslosigkeit. Doch als Muslimin, Hindu, Jüdin usw. werden die Betreffenden geboren - es gibt weder ein zwingend notwendiges Eintrittsritual noch eine Stelle, bei der man seinen „Austritt“ anmelden könnte. Der Beitritt zu einem religiösen Verband gilt als freiwillig und ist nichtnotwendig für die Religionszugehörigkeit. Solange die Betreffenden nicht zu einer anderen Religion übertreten, werden sie genauso gezählt wie ein monatlich zahlendes Kirchenmitglied – selbst wenn sie keinerlei religiöse Praxis mehr ausüben! Dies führt nicht nur zu Kuriositäten wie dem deutschen „Zentralrat der Ex-Muslime“. Zum Vergleich: Würden wir auch alle Deutschen, die noch irgendwie Weihnachten feiern, plötzlich wieder als „Christen“ zählen, so wäre auch Ostdeutschland auf einen Schlag wieder dominant „christianisiert“, es gäbe kaum mehr „Konfessionslose“! Und bei den Muslimen zählen die einschlägigen Statistiken derzeit sogar noch die erheblichen Anteile derjenigen, die ausdrücklich angeben, „nie“ zu beten, nicht (mehr) an Gott zu glauben usw.!
Bekommen „die Muslime“ mehr Kinder? Nein, „die Religiösen“!

Eine weitere, populäre Behauptung ist, dass „die Muslime mehr Kinder“ bekämen als „die Nichtmuslime“. Auch das ist religionsdemografisch gesehen schlicht falsch: Religiöse Christen und Juden bekommen ebenso viele, säkulare Muslime ebenso wenige Kinder wie ihre anders- bzw. nichtglaubenden Nachbarn. Mit den christlichen Old Order Amish, Hutterern und Mormonen sowie den jüdisch-ultraorthodoxen Haredim führen sogar nichtmuslimische Traditionen die Langzeitrekorde an Kinderreichtum an. Sie konnten sich an Orten entwickeln, an denen ihnen ausreichend lange Religionsfreiheit gewährt wurde. Dagegen ist die Geburtenrate in immer mehr islamisch geprägten Gesellschaften bereits unter die Bestandserhaltungsgrenze von 2,1 Kindern pro Frau gefallen – beispielsweise auch im Iran, der Türkei, in Malaysia, auf dem Balkan usw. In Afrika verzeichnen christlich und islamisch geprägte Gesellschaften gleichermaßen bleibend hohe Geburtenraten. Also: Religiös Fromme haben im Durchschnitt mehr Kinder als Liberale und gar Säkulare; aber auch das gilt über die monotheistischen Weltreligionen hinweg. Die türkisch-kemalistische Oberschicht hatte und hat erheblich weniger Kinder als die islamisch-konservative Bevölkerung der türkischen Dörfer und Vorstädte, obwohl beide Milieus nominell „muslimisch“ sind.

Fazit: „Die Islamisierung“ fällt aus
Die Behauptung einer eindimensionalen „Islamisierung“ ist keine wissenschaftlich haltbare These, sondern ein Mythos, der auf Identitäts- und Sinnstiftung zielt. Fundamentalistische Muslime behaupten damit einen angeblich kommenden „Sieg“ und westliche Rechtspopulisten schüren damit Bedrohungsängste, um Anhängerschaften zu gewinnen und zu manipulieren. Doch beide täuschen sich und andere damit. Die Fiktion einer eindimensionalen „Islamisierung“ ist vergleichbar zum ebenfalls falschen, antisemitischen Vorwurf der „Verjudung“ im 20. Jahrhundert, die es ebenfalls nicht gab.

Tatsächlich befinden sich sehr viele „Muslime“ am Anfang des 21. Jahrhunderts längst im stillen Rückzug aus ihrer Religion, andere drängen auf humanistische Reformen - zumal autoritäre Regime und Terrorgruppen die Glaubwürdigkeit des Islam beschädigen, wie jene des Christentums im 30jährigen Krieg. Angehörige von Kulturen und Religionen begegnen sich, durchdringen einander, verändern sich – im Islam ebenso wie in allen anderen Weltreligionen. Es wäre höchste Zeit, dass Öffentlichkeit, Wissenschaft, Medien und auch Religionsgemeinschaften selbst stärker wahrnehmen, was tatsächlich im Alltag an Interessantem, Vielschichtigem passiert.


Dr. Michael Blume ist Religionswissenschaftler, Blogger und Buchautor. Seine Homepage: www.blume-religionswissenschaft.de

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