Dr. Christoph Quarch: "Fußball ist eine Feier der Lebendigkeit"
15.06.2014 -König Fußball regiert die Welt. In allen Nationen feiern Menschen die Fußball-Weltmeisterschaft. Trotz all der Begeisterung sind die Schattenseiten der Kommerz-Veranstaltung nicht kleinzureden. DAS MILIEU sprach mit dem Philosophen Dr. Christoph Quarch über den Fußball als letzte Bastion der Lebendigkeit, die unaufhaltsame Kommerzialisierung des Fußballs und die unheimlichen Auswüchse im Fall der Weltmeisterschaft in Brasilien.
DAS MILIEU: Rechtzeitig zur Fußball-WM 2014 haben Sie einen Essay verfasst, der den Titel „Letzte Bastion der Lebendigkeit“ trägt. Was hat Sie dazu bewogen diesen Essay zu schreiben?
Dr. Quarch: Nichts anderes auf der Welt lenkt die Aufmerksamkeit so vieler Menschen auf sich wie Fußball. Die Fußballbegeisterung kennt keine Kultur- und Religionsgrenzen. Fußball ist global. Da frage ich mich als Philosoph: Wie kann das sein? Was ist das Besondere an diesem Sport? Welche gesellschaftliche Relevanz eignet ihm? Welche kulturellen Potenziale birgt er? Und wo ist sein Bestand bedroht?
DAS MILIEU: Sie bezeichnen sogar den Fußball in ihrem Essay als ein „Geschenk des Himmels“. Welchen persönlichen Bezug haben Sie zum Fußball?
Dr. Quarch: Ich war selber lange Jahre aktiv und kicke noch immer gern bei den Alten Herren vom FV Horas. Seit meiner Jugend halte ich es mit Fortuna Düsseldorf, da lernt man leiden. Davon abgesehen hat mich Fußball immer begeistert. Es war für mich immer viel mehr als „nur“ ein Spiel. Inzwischen glaube ich herausgefunden zu haben, warum das so ist.
DAS MILIEU: Es ist eine verbreitete Auffassung, dass Fußball eine Art Religion sei. Sie jedoch weisen dies zurück. Weshalb?
Dr. Quarch: Weil Fußball allem voran ein Spiel ist. Und das ist das Beste, was man über ihn sagen kann. Ein Spiel – philosophisch gesehen – ist eine Feier der Lebendigkeit. Wer spielt –oder auch als Zuschauer mitspielt – erfährt auf intensive Weise, was Leben sein kann: Freude und Leid, Kampf und Versöhnung, Liebe und Begeisterung, Tod und Auferstehung, Tragik und Komik. Davon handeln auch Religionen, aber ihnen fehlt dabei die wunderbare Verbindung von unbedingtem Ernst und totaler Leichtigkeit, die ein Spiel auszeichnet.
DAS MILIEU: Aber kann man den Fußball, in dem es für die Spieler, Funktionäre und Vereine um so viel Geld geht noch ein Spiel nennen? Sie zitieren den niederländischen Historiker Johan Huizinga. Ist es vor diesem Hintergrund nach seiner Definition überhaupt noch ein Spiel?
Dr. Quarch: Was mir am Fußball so gefällt, ist dass er trotz der von Ihnen aufgezählten Entwicklungen sein spielerisches Element nicht verloren hat. Klar, vor dem Spiel und nach dem Spiel, rings um das Spielfeld in den Lounges der Sponsoren und den Studios der Fernsehsender wird das Spiel für alles mögliche instrumentalisiert und missbraucht. Aber während der 90 Minuten zwischen Anpfiff und Abpfiff hat es seine Unschuld bewahrt. Da sind sich ein Kreisliga-Kick und eine WM-Finale gleich. Da wird gespielt und da entfaltet es seinen unwiderstehlichen Zauber.
DAS MILIEU: Würde der Fußballsport an Bedeutung für uns Fans verlieren, wenn keine hohen Ablösesummen oder Gehälter gezahlt werden?
Dr. Quarch: Überhaupt nicht. Wer einmal bei einem D-Jugend-Kick zugeschaut hat, weiß, dass die Fußballbegeisterung nicht von solchen Sekundärphänomenen abhängt. Da werden Mütter zu Furien und Väter zu Emotionsbündeln. Wer wirklich vom Spiel ergriffen ist, spielt um des Spieles willen – auch wenn er als Zuschauer mitspielt. Er will gewinnen und – was noch wichtiger ist – er will gut spielen. Alles andere tritt in den Hintergrund.
DAS MILIEU: Kaufen Sie den Spielern Liebesbekenntnisse zu ihren Vereinen oder Nationen ab oder glauben Sie, dass für Fußballprofis nur das Gehalt stimmen muss? Hat der „Homo Oeconomicus“ den Profispielern ihre Jugendliebe Fußball ausgespannt?
Dr. Quarch: Auch hier würde ich unterscheiden zwischen dem, was während des Spiels geschieht und was außerhalb des Spielfelds stattfindet. Als jemand der selbst aktiv gewesen ist, wage ich zu behaupten: Während des Spiels denkt keiner an sein Gehalt oder seiner Prämie. Tut er es doch, hat er aufgehört ein Spieler zu sein. Dann verliert er hundertprozentig. Im Spiel ist man total der Logik des Spiels unterworfen. Man will gut sein und gewinnen. Über Gehälter und Prämien wird nachher gesprochen. Wer diese feine Grenze zwischen Spiel und Nichtspiel verwischt, wird sich auf Dauer im Profibetrieb nicht halten können. Es ist die große Stärke von Spielertypen wie Thomas Müller oder Philipp Lahm, dass sie dieser Gefahr bislang nicht erlegen sind.
DAS MILIEU: Glauben Sie, dass ein Funktionär das Spiel noch genießen könnte, wenn man aus dem Fußball keinen Gewinn mehr erwirtschaften könnte? Könnten Sportwetter das Spiel genießen, wenn man nicht mehr wetten könnte? Haben diese Nebensächlichkeiten den Fußball erobert?
Dr. Quarch: Funktionäre und Sportwetter können jetzt schon kein Spiel genießen, weil sie als Zuschauer nicht mitspielen, sondern um ihre Profite bangen. Sie verhalten sich zum Spiel wie ein Börsenmakler zu den Aktienkursen. Ihnen fehlt die Leichtigkeit des „Es ist ja nur ein Spiel“ – und deshalb können Sie auch nicht den Ernst, die Tragik, die Begeisterung, das Glück eines echten Fans nachvollziehen.
DAS MILIEU: Auf der einen Seite hungern die Menschen in den Favelas, während auf der anderen Seite die Kosten für die Fußball-WM 2014 mehrere Milliarden Euro betragen. Alleine die Stadien sollen wohl schon 2,8 Mrd. € verschlungen haben. Trübt das nicht die Freude an der Weltmeisterschaft?
Dr. Quarch: Ja, das trübt die Freude an dem ganzen Spektakel. Auch die Machenschaften der FIFA oder die unselige Behindertenvorführung vor dem Auftaktspiel haben mir die Lust auf den WM-Rummel gehörig getrübt. Aber wenn der Ball erst mal rollt und das Spiel beginnt, dann ist das alles vergessen. Und das ist gut so, denn es fehlt in unserer Welt an Ereignissen, für die sich die Menschen begeistern können und die sie zum Lachen oder Weinen bringen. Es ist aber auch schlecht, denn der unzerstörbare Zauber des Spiels weckt so viele Begehrlichkeiten, es für ökonomische, politische oder andere Zwecke zu missbrauchen. Gegen all das muss man protestieren. Nur darf man das Spiel deshalb nicht diskreditieren. Im Gegenteil: Das Spiel hält die Erinnerung daran wach, dass es im Leben um anderes geht als um Geschäfte und Konsum – nämlich um wahre Lebendigkeit, die man sich gerade nicht kaufen, sondern nur erspielen kann.
DAS MILIEU: In Manaus wird ein Stadion hochgezogen, das 225 Millionen Euro kostet. Dieses Stadion wird vermutlich nach vier Vorrundenspielen nie wieder genutzt werden, da sich in Manaus keine Profimannschaft befindet, die dieses Stadion füllen könnte. Wäre dieses Geld nicht besser in Bildung oder Infrastruktur investiert?
Dr. Quarch: Ja. Es gibt keinerlei Notwendigkeit, solche Stadien zu bauen. Dabei geht es ja auch nicht ums Spiel, sondern um politische oder kommerzielle Interessen. Es wäre völlig okay, die vorhandenen Stadien häufiger zu nutzen. Wieder zeigt sich: Fußball ist extrem instrumentalisierungsanfällig. Der Homo Oeconomicus tut alles, um sich das Spiel zu unterwerfen. Denn er ahnt: Der Geist des Spiels ist ihm gefährlich. Wer wirklich spielt, konsumiert nicht mehr, entzieht sich dem Gesetz des Marktes. Dem echten Spieler reicht eine Blechdose und eine handvoll Kumpels, um zwei glückliche Stunden zu verbringen. So lange der Mensch im Spiel ist, ist er gegen die umfassende Ökonomisierung des Lebens immun.
DAS MILIEU: Offensichtlich herrscht die Gefahr einer „Kolonialisierung“ des Fußballs durch die Ökonomie. Wie kann unsere Gesellschaft dieser Gefahr entgegentreten?
Dr. Quarch: Indem sie den Menschen Spielräume bewahrt und Spielzeiten gewährt. Und indem sie Sportvereine darin unterstützt, den Geist des Spiels in unseren Kindern und Jugendlichen zu wecken und zu wahren. Das ist das wichtigste. Solange Fußball gespielt wird, ist die Gefahr seiner totalen Kommerzialisierung gebannt. Wer spielt, konsumiert nicht. Wir alle sollten mehr spielen und auf diese Weise der totalen Mobilmachung des Homo Oeconomicus den Kampf ansagen.
DAS MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Quarch!
Das Interview führte Kfeel Arshad am 12. Juni 2014.