Dr. Albert T. Lieberg: "Ich möchte nicht am Kapitalismus rumfeilen, sondern ihn ersetzen"
15.05.2018 -Er ist langjähriger Berater der Vereinten Nationen, Experte für internationale Entwicklungspolitik und Buchautor. In seinem neuen Buch „Der Systemwechsel – Utopie oder existenzielle Notwendigkeit?“ kritisiert er die derzeitige Systemwirklichkeit und stellt eine konkrete alternative Gesellschaftsoption vor. DAS MILIEU sprach mit dem Autor Dr. Albert T. Lieberg über die Grundsätze des „Systemwechsels“, eine Wirtschaft ohne Geld und die Frage, warum immer noch so wenig gegen die Ausbeutung der dritten Welt getan wird.
DAS MILIEU: In Ihrem neuen Buch fordern Sie einen „Systemwechsel“. Welches System meinen Sie?
Dr. Albert T. Lieberg: Mit System meine ich in erster Linie, dass wenn wir die sozialen, ökonomischen und ökologischen Parameter des Zusammenlebens auf diesem Planeten betrachten, sich alles mehr oder weniger in einem System bewegt. Dieses System ist über Jahrhunderte gewachsen und hat vor allem seit der industriellen Revolution und insbesondere seit dem 2. Weltkrieg eine besondere Dynamik entwickelt. Dieses System basiert in erster Linie auf einer immer stärker gewordenen Wettbewerbsprägung in einer Gesellschaft, in der sich Menschen gegeneinander durchsetzen müssen und zwar in erster Linie nicht nur oder nicht mehr nur um zu überleben, wie es über Tausenden von Jahren war, sondern um materielle Profite zu erlangen und generell ein immer höheres materielles Niveau im Leben erreichen zu können.
Dieses System, das auf der einen Seite den Gewinnern ein schöneres Leben beschert, führt andererseits zu vielen negativen Auswirkungen auf Planet und Mensch, wie z.B. der Raubbau an den natürlichen Ressourcen, die Umweltvermüllung, aber eben auch zu großen psycho-sozialen Problemen in unserer modernen Welt wie beispielsweise dem Phänomen des Burnouts und täglichen psychologischen und sozialen Stress, der uns durch diese Wettbewerbsgesellschaft prägt. Generell führt es auch dazu, dass wir Kriege auf diesem Planeten führen, die aufgrund von wirtschaftlichen Situationen und wirtschaftlichen Interessen geführt werden.
MILIEU: Kann Ihre Leserschaft eine komplett neue Idee der „Weltverbesserung“ von Ihrem Buch erwarten?
Dr. Lieberg: Wenn ich mich in einen Leser hineinversetze, der das Buch in einem Buchladen sieht mit diesem Titel und einem solchen Coverbild, dann ist natürlich schon die Erwartung da, dass der Autor möglicherweise etwas vorschlägt. D.h. einen Wechsel von einem System zu einem anderen und das ist auch richtig so.
Neben meiner Arbeit als Berater für die Vereinten Nationen habe ich auch über 30 Jahre im Bereich der globalisierungskritischen Institutionen und Bewegungen gearbeitet und international immer wieder festgestellt, dass bei letzteren die generalisierte Antisystemhaltung an erster Stelle stand und steht. Man war und ist immer gegen etwas, aber sehr selten wird politisch detailliert ausformuliert, wofür man eigentlich sein möchte. Das ging mir dann irgendwann nicht weit genug und ich habe mich gefragt, ob es vielleicht Institutionen oder Bewegungen gibt, die konkrete Vorschläge haben, in welche Richtung die Evolution des Menschen gehen könnte, wenn es denn nicht in die bisherige Richtung sein soll. Nach langjährigem sich Einbringen und Hineinhören bei verschiedenen politischen Parteien, sowohl innerparlamentarisch als auch außerparlamentarisch, und bei zivilgesellschaftlichen Bewegungen, war ich letztlich zu dem Schluss gelangt, dass ich mit keinem dieser Ansätze wirklich konform war. Ich dachte, gut, dann skizziere ich selber ein Gesellschaftsmodell, von dem ich denke, dass es langfristig funktionieren und zu einem friedlichen harmonischen Weltbild unserer Gesellschaft führen kann.
MILIEU: Welche Bereiche und Dimensionen menschlicher Existenz sehen Sie als „reif“ für den Wechsel an und warum?
Dr. Lieberg: Das Wort „reif“ ist immer eine zwiespältige Geschichte. Bei „reif“ kann man sagen, ok, diese Person ist reif etwas zu tun, deshalb kann sie es tun, sie ist berechtigt, es zu tun. In Ihrem Zusammenhang verstehe ich Sie wahrscheinlich richtig, dass Sie fragen, was die Stellschrauben unserer Evolution, unserer gesellschaftlichen Entwicklung sind, die am akutesten zu verändern sind. Da muss ich an erster Stelle die Erziehung nennen, das ist, wie ich finde, fundamental. Wir müssen es schaffen, als intelligente Spezies auf diesem kleinen Planeten die neuen Generationen dahin zu führen, dass sie nicht mit dem Bild des Individuums aufwachsen, das sich letztendlich immer wieder bis zu seinem Tode hin mit seinen Ellbogen gegen andere durchsetzen muss. Es ist ja heutzutage praktisch bei allen gängigen Schulformen der Fall, dass einem kleinen Kind schon in der Grundschule und später einem jungen Menschen bis hin zur Universität gesagt wird, dass man, um in der Gesellschaft anerkannt zu sein, auch erfolgreich sein muss. D.h. auch einem kleinen Jungen oder Mädchen auf der Schulbank in der Volksschule wird vermittelt: „Du musst besser sein als andere, ja auch besser als dein Freund.“ Allein das ist schon pervers.
Man gibt kleinen, denkenden Menschen, die anfangen die Welt zu erkennen schon sofort zu verstehen, dass man doch besser sein soll als der andere. Da muss ein fundamentales Umdenken geschehen, dass diese Menschen dahin geführt werden zu denken: „Ja, ich stelle fest, dass ich gewisse Zusammenhänge schneller verstehe als mein Freund, aber das bewegt mich in erster Linie dazu, dass ich diesem Freund helfen möchte, diese Zusammenhänge auch zu verstehen.“ Das ist der fundamentale Unterschied - die Erkenntnis nämlich vielleicht gewisse Attribute des „besser seins“ zu haben, aber diese in einem anderen Kontext zu verwirklichen, nämlich in einem solidarischen Kontext. Dieser kann auch viel weiter gefasst werden, muss er auch, solidarisch im Sinne der Entwicklung unserer Gesellschaft nämlich. Man setzt seine persönlichen Attribute und Fähigkeiten ein, um die Gesamtgesellschaft auf allen Gebieten weiterzubringen und das sollte, kurzgefasst, ein Hauptelement bei der Erziehung darstellen.
MILIEU: Wo sehen Sie die größten Missstände?
Dr. Lieberg: Sie sind verankert in unserer westlichen Zivilisation, wir können auch Deutschland als Beispiel nehmen. Wir sagen, dass die Entwicklung in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg überaus erfolgreich war. Auch die progressiven, um nicht zu sagen auch die linken Akteure unserer Gesellschaft stellen das letztendlich immer wieder heraus und begründen das damit, dass es einen relativ hohen materiellen Lebensstandard und eine relativ hohe persönliche Sicherheit gibt. Dann klopfen wir uns ein bisschen auf die Schulter und andere Nationen sagen zudem, dass die Deutschen so organisiert und intelligent sind und alle Dinge ziemlich gut machen, sozial und auch ökologisch. Aber wenn man das mal als Wirtschaftsinteressierter ein bisschen analysiert, da braucht man nicht studiert zu haben, worauf sich dieser sogenannte wirtschaftliche Erfolg bzw. der materielle Wohlstand in Deutschland, und übrigens auch in den meisten anderen führenden Industrienationen, insbesondere begründet, kommt man zu einer Reihe schwerwiegender Erkenntnisse. Aber zunächst lassen Sie uns als Grundlage ein paar Dinge näher betrachten, die für diese Zusammenhänge wichtig sind. Ein Staat kann sich nur davon finanzieren, welche Einnahmen er erzielt, und in einer westlichen und „normalen“ Demokratie sind es die Steuereinnahmen, entweder von Privathaushalten oder Betrieben bzw. Unternehmen. Je mehr Steuern von den privaten Haushalten und Wirtschaftsakteuren eingezahlt werden desto mehr Geld hat der Staat zur Verfügung, um z.B. Sozialausgaben oder Infrastrukturmaßnahmen finanzieren zu können. Es ist ganz wichtig das im Hinterkopf zu behalten.
Der andere Punkt ist die relativ hohe Wirtschaftskraft, die wir auch als Einzelperson haben. Ich habe so und so viel Geld jeden Monat zur Verfügung und kann dadurch das und das kaufen und meine Miete bezahlen. Gut, wir haben also hohe Staatseinnahmen und, verglichen mit anderen Staaten, eine sehr hohe Kaufkraft der Bürger, d.h. wir verdienen jeden Monat eine gewisse Summe und können damit einiges erwerben und bezahlen. Also, mit anderen Worten, die Preise sehr vieler Güter und Dienstleistungen, die wir konsumieren sind für uns erschwinglich. Dann lassen wir uns doch einmal diese für uns bezahlbaren Werte ansehen. Die relativ niedrigen Preise für unsere Konsumgüter erklären sich nämlich vor allem auch dadurch, dass wir letztendlich Betriebsmittel in unseren Produktionsverläufen integrieren, die nicht in Deutschland oder Europa fabriziert und produziert sind und folgerichtig auch nicht den strengen Richtlinien der sozialen (Entlohnung) und Umweltbestimmungen der EU oder Deutschlands unterliegen. Wir behaupten, dass ein Auto in Deutschland basierend auf deutschen moralischen Vorstellungen, was Sozial- und Umweltstandards anbelangt, produziert werde. Das ist fundamental falsch, da unzählige Betriebsmittel, wie etwa aus der Elektronik, im Bereich der Kunststoffe und tausende andere Betriebsstoffe ursprünglich nicht aus Deutschland kommen. Diese werden aus Drittländern verarbeitet reimportiert bzw. direkt importiert. In den Herkunftsländern dieser Betriebsstoffe und Produkte werden die Menschen aber nicht auf Basis eines vergleichbaren deutschen Mindestlohns bezahlt, sondern sehr weit darunter.
Wenn man das überschlagsmäßig alles durchrechnen würde, wie teuer z.B. eine Zündkerze eines Autos wäre, wenn sie komplett auf Basis des deutschen Mindestlohns (nicht absolut, sondern relativ, was dessen Kaufkraft angeht) hergestellt werden würde, den Bereich der Umweltstandards und der vom Staat bzw. der Gesellschaft garantierten/bezahlten Leistungen noch außen vor, welche zusätzliche Mehrkosten ergeben würden, dann würde diese Zündkerze ein Vielfaches kosten als es heute der Fall ist. Heute kostet eine Zündkerze je nach Firma um die zehn Euro und das ist nur ein Beispiel von vielen. Die meisten unserer fertigen Konsumgüter benötigen einem unglaublich hohen Bestandteil an Betriebsmitteln, die gar nicht in Deutschland ihre Herkunft haben und von daher gar nicht den moralischen Vorstellungen der deutschen Gesellschaft unterliegen.
Unser hohes materielles Lebensniveau basiert letztendlich auf einer Ausbeutung von Millionen von Menschen in anderen Ländern, ohne dass wir uns dessen wirklich bewusst sind. Die Zündkerze müsste eigentlich 100 Euro kosten, also zehnmal so viel wie heute, und das Auto statt 20.000 wohl 100.000 Euro kosten oder noch wesentlich mehr, wenn wir tatsächlich so moralisch wären und unsere eigenen Parameter, die wir hier in Deutschland oder in anderen westlichen Industriestaaten anwenden, auch global für die Betriebsstoffe, die reinkommen ins Land, ansetzen. Und dies war nur ein Beispiel von tausenden, egal in welcher Branche bestehen heute dieselben Dynamiken der Preisbildung, bei Lebensmitteln, im Gesundheitssektor, Bauindustrie, Elektronik, Freizeitartikel etc. Letztendlich sind das fundamentale Dinge, die in der Schule und vor allem in den Universitäten erklärt werden müssten. Man sagt einfach, das sind billige Betriebsstoffe importiert aus Hong Kong, Taiwan oder sonst woher - wie schön für uns - und danach kommt nichts mehr. Das ist eine Situation, die untragbar ist. Ich bin für absolute Informationsfreiheit, d.h. für mich vor allem auch Objektivität der Information und das ist ein ganz wichtiger Punkt, der in einer zukünftigen modernen, progressiven und reifen Gesellschaft auch angegangen werden muss. Wir Menschen müssen die Möglichkeit haben objektive Information über alle Lebensbereiche erhalten zu können, doch das ist derzeit nicht der Fall. Man kann das Internet benutzen, aber auch da weiß man bei der Flut von Informationen oft nicht, welchen Informationsquellen man überhaupt trauen darf und kann.
MILIEU: Denken Sie also, dass die Globalisierung zusammen mit dem Kapitalismus die Hauptursachen sind für die ganzen Probleme auf der Welt?
Dr. Lieberg: Das kann man so nicht sagen. Ich bin generell selbst ein Mensch, der die Globalisierung oder das Wort Globalisierung gut findet. Ich bin u.a. auch langfristig für die Auflösung der Staatsgrenzen auf der Erde. Wir leben auf einem winzigen Planeten innerhalb von einem riesigen Universum, dessen Grenzen man noch gar nicht ausgemacht hat und wahrscheinlich nie ausmachen wird, in denen es Trillionen von Trillionen von Planeten gibt, und über Millionen von Jahren haben sich auf diesem winzigen Planeten tausende von biologischen Spezies ausgebildet und eine einzige, nämlich die unsere, dominiert heute praktisch alles. Ich denke, dass man das auch in diesem Kontext sehen muss. Deshalb bin ich für eine Globalisierung in dem Sinne, dass man eine Weltgemeinschaft mit kulturellen Identitäten hat. Leute vermischen meist kulturelle Identität mit Nationalstaat. Klassisches Beispiel: in Afrika sind nach dem zweiten Weltkrieg in Folge der Dekolonialisierung Staaten entstanden, bei denen die Staatsgrenzen völlig willkürlich gezogen wurden, beispielsweise mitten durch ein traditionelles Siedlungsgebiet eines afrikanischen Stammes und trotzdem gibt es diese Staaten immer noch. Ich bin nicht gegen ein globales Denken, ich bin für ein globales Denken, in dem wir über unsere Evolution in einem gemeinschaftlichen Prozess nachdenken, da stören Nationalstaaten bzw. nationale Grenzen, sie sind künstlich.
Ich bin auch nicht der Meinung, dass es utopisch ist so zu denken. Ein Beispiel in diese Richtung: Es ist nach dem zweiten Weltkrieg insbesondere durch die Entstehung der Europäischen Gemeinschaft tatsächlich erreicht worden, einen in der Geschichte Mitteleuropas so nie dagewesenen langen Frieden zu sichern. Der ist heute natürlich leider wieder in Gefahr, aber das sollte uns nicht davon abhalten, fest daran zu glauben und vor allem uns dafür einzusetzen, dass die friedliebende Gemeinschaft das erstrebenswerteste Ziel des Lebens auf diesem Planeten sein muss.
MILIEU: Ich würde gerne nochmal auf das Problem der Billigproduktion in der dritten Welt zu sprechen kommen. Wie kann es sein, dass in unserer globalisierten Welt, in der die Hauptakteure darüber Bescheid wissen und wir alle zudem politisch miteinander vernetzt sind, nichts gegen diese Ausbeutung getan werden kann?
Dr. Lieberg: Ich würde mal ein Fragezeichen dahinter setzen, ob wirklich alle Bescheid wissen. Ich weiß nicht, wie viele Menschen, um bei dem Beispiel zu bleiben, wissen, woraus eine Zündkerze besteht. Und ob viele wissen, woher die einzelnen Elemente, insbesondere die Metalle, innerhalb dieser Zündkerze herstammen und wie diese monetär bewertet wurden, um in Deutschland im Laden zu 10€ zu gelangen. Ich glaube, dass nur eine kleine Minderheit dies weiß. Das ist ein großes Manko und ich bin ja selbst promovierter Wirtschaftswissenschaftler und ich kann die Gesellschaft letztendlich nur auffordern hier Stellschrauben zu verändern: Auch in den Universitäten müssen diese grundsätzlichen Kalkulationen offengelegt dem Studenten auch zur moralischen Bewertung mitgegeben werden, die Studenten müssen in der Lage sein, sich selbst ein Bild zu machen, wie weit diese Art von Wirtschaft, nämlich die sogenannte globalisierte Kostenminimierung, überhaupt moralisch akzeptabel ist.
MILIEU: Glauben Sie, wenn man allein den Kapitalismus bändigen oder beenden könnte, dass dann auch die großen Probleme wie Armut und Hunger vorbei wären?
Dr. Lieberg: Natürlich nicht. Der Titel des Buches ist ganz bewusst „Der Systemwechsel“. Vielleicht kennen Sie den Ausdruck „Systemwandel“, das ist ein riesiger Unterschied. Wandel bedeutet, ich verändere etwas, Wechsel bedeutet, ich ersetze etwas. Ich bin nicht für das nicht enden wollende Rumfummeln an einem System. Das beschreibe ich auch lang und breit in diesem Buch. Viele Regierungen versuchen seit Jahren und Jahrzehnte durch beispielsweise gutgemeinte Arbeitsmarktreformen an diesem System herumzuwerkeln, um es dann weiter am Leben zu erhalten bzw. um es etwas weniger hart zu gestalten. Aber meines Erachtens wird der Kern nie angegangen. Der Kern ist letztendlich, dass die Menschen auf einem kleinen Planeten mit sehr begrenzten Ressourcen leben, d.h. im Sinne von existentiellen Ressourcen über die man nur selten spricht, nämlich beispielsweise fruchtbares Ackerland und Wasser, fruchtbares Ackerland und Wasser sind fundamental. Diese Dinge können und dürfen nicht beschränkungslos in Privathand einiger weniger Menschen oder Menschengruppen sich befinden, wie es oft der Fall ist, wenn eine Familie oder ein Unternehmen Millionen von Hektar Land als Eigentum besitzt. Das gibt es nicht nur in Lateinamerika, das gibt es auch in anderen Erdteilen, in Nordamerika, in Saaten Afrikas und Asiens, in der Ukraine, ich halte das für völlig absurd – und der Trend zu Megaunternehmen in der für uns Menschen existentiell wichtigen Landwirtschaft ist ungebrochen und stellt einen der gefährlichsten Phänomene unserer Zeit dar.
Wir sind bald 7,7 Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Man stellt es auch nie in Frage, man nimmt es einfach hin, dass solche elementaren Ressourcen in Privathand sich befinden, während Millionen oder hunderte von Millionen Menschen überhaupt keinen Zugang zu fruchtbarem Boden oder sauberem Trinkwasser haben, oder wenn dann nur, wenn sie dafür sich abrackern und Geld aufbringen. Das lassen wir mit vollem Bewusstsein zu, weil wir denken das System ist so, d.h. alles muss zu monetär handelbarer Ware mutieren. Das ist bereits seit Jahrhunderten ein fundamentaler Bestandteil des menschlichen Denkens - die Möglichkeit des grenzenlosen sich Aneignens. Aber was über Jahrhunderte existiert oder sich entwickelt hat, heißt noch lange nicht, dass es auch nur im Ansatz richtig sein muss. In Argumentationen oder Debatten politischer Art sagen oft einige: „Aber das war ja schon immer so“, oder „dies ist doch Teil der menschlichen Genetik!“ Bei diesen Sätzen fasse ich mir immer wieder an den Kopf. Da könnte man auch sagen, über Jahrhunderte wurde die Frau an den Haaren hinter dem Mann hergezogen. Und, war es gut? Nein! Es war nicht gut und es ist gut, dass wir uns entsprechend emanzipiert haben! Man muss klar und unabdingbar fordern, dass wir objektiv und rational über unsere heutige Situation, über die Möglichkeiten des weiteren Zusammenlebens auf diesem Planeten in einer tabulosen Art und Weise nachdenken. Tabulos heißt eben auch u.a. über unsere Wirtschaftsweise oder den Privatbesitz nachzudenken. Man muss sich überlegen, wie wir die zukünftigen Generationen moralisch gesehen aufstellen wollen, so dass sie füreinander arbeiten und nicht gegeneinander. Mit anderen Worte möchte ich nicht am Kapitalismus rumfeilen. Ihn abzuschaffen ist schön und gut, aber man muss natürlich immer wissen, womit man etwas ersetzen kann. Deshalb habe ich versucht diese Frage in meinem Buch zu beantworten, als eine Option, die letztendlich ein kapitalistisches, wettbewerbsindoktriniertes System ersetzen würde.
MILIEU: Sie schreiben, dass die Wirtschaft in diesem gesamtplanetarischen Staat komplett ohne Geld funktionieren würde. Menschen würden zwar arbeiten, aber nicht auf monetäre Art entlohnt werden. Wie können wir uns eine solche Welt ohne Geld, Banken oder Versicherungen vorstellen?
Dr. Lieberg: Das ist natürlich aus heutiger Sicht schwer sich vorzustellen, da gebe ich Ihnen Recht. Aber wie Sie auch sicher gelesen haben, spreche ich von mehreren Generationen, die dafür nötig sind, um dorthin zu gelangen. Es ist ein gesellschaftlicher, evolutionärer Reifeprozess, den wir angehen müssen, der aber seine Zeit benötigt. Was Ihre Frage anbelangt bzw. die Entlohnung, so können wir uns zunächst fragen, warum denn die meisten Menschen heute arbeiten. In erster Linie machen sie dies, sofern sie keine großen Erbschaften auf dem Konto haben oder entsprechende Zinseinnahmen, um sich letztendlich einen wie auch immer gestalteten Lebensstandard ermöglichen zu können, d.h. Essen, Wohnung, Kleidung, Gesundheit, Erziehung etc. Jetzt stellen Sie sich mal vor, wir würden als Gesellschaft festlegen, dass diese Elemente, wie z.B. Wohnraum, keinen Geldwert mehr hätten. Das hieße natürlich auch folgerichtig, dass es keinen wirklichen individuellen Privatbesitz in diesen Bereichen gäbe. Ich bin der Meinung, dass jedem Menschen als Menschenrecht ein würdiges Haus oder würdige Unterbringung zusteht, die unentgeltlich erworben werden kann, ein Menschenrecht wie Grundernährung und Trinkwasser. Genauso wie es in der Tierwelt ein Tierrecht ist, dass ein Tier sein Essen und Wasser in der Natur finden kann. Das geht natürlich in einer hoch modernen, technologisierten Gesellschaft wie der heutigen nicht so einfach wie im Tierreich. Dahin möchte ich auch nicht wieder zurück. Im Gegenteil, ich möchte zu einer Welt, die sich entsprechend technologisch entwickelt und zwar vor allem in den Bereichen, wo es darum geht, psychisch und physisch schädliche Arbeit vollständig durch Automatisierung zu ersetzen.
Um Ihre Frage jetzt noch einmal aufzunehmen, wenn ein Mensch unentgeltlich den Zugang zu Essen, Wohnung, Gesundheit, Kleidung, Freizeitmöglichkeiten usw. hat, und diese Person gleichzeitig mit einer ganz anderen sozial-moralischen Motivation aufgewachsen also auch erzogen worden ist als heute - Sie erinnern sich, wir sprechen von mehreren Generationen der graduellen Veränderung - würde diese Person höchstwahrscheinlich sagen: „Ich bin froh, dass ich diesen Lebensstandard habe, dass mir meine Gesellschaft einen solchen Lebensstandard bietet, und deshalb möchte ich auch meine Arbeitskraft für die Gesellschaft einsetzen.“ Da denkt man: unentgeltlich? Nein. Unentgeltlich in dem Sinne, dass die Menschen ja schon einen hohen Lebensstandard haben, sie brauchen also gar kein Geld. Man hat dann die Möglichkeit, die Arbeitskraft in Bereichen einzusetzen, die einem liegen, oder in denen es nötig ist, ob das in der Pflege oder Technologie, in der Lehre oder einfach nur im Straßenbau der Fall ist, ist letztendlich unwichtig.
MILIEU: Das bedeutet, der gesunde Wettbewerb soll nicht stagnieren, die Menschen arbeiten dann nicht, um glücklicher zu werden im materiellen Sinne, sondern weil sie schon glücklich sind?
Dr. Lieberg: Das ist schön gesagt von Ihnen. Das kennen Sie bestimmt selber, wenn man mal plötzlich in der Natur ist und sagt: Ach, wie schön ist das hier! Da ist man auch irgendwie dankbar durch diesen Ausspruch, wie schön es doch ist. Genau das in eine Gesellschaftsform zu übersetzen wäre aus meiner Sicht ideal. Ich bin dankbar dafür, dass es mir und anderen so gut geht und deshalb möchte ich es auch sichern. Ich möchte dazu beitragen, dass es uns allen auch weiterhin so gut geht, mit meiner Arbeit, mit meinem Beitrag.
MILIEU: Sie sprechen im Buch von einer Neudefinition der Werte. Einige Aspekte hiervon haben wir bereits kennengelernt, z.B. kein Konkurrenzdenken, Motivation zum Gemeinwohl beizutragen. Was soll sich noch im Moralverständnis ändern?
Dr. Lieberg: Ich denke, Sie haben schon die wichtigsten Punkte genannt, nämlich die moralische Prägung angefangen während der Erziehungsjahre eines Kindes, dann der Übergang zur Schaffung des gesamtgesellschaftlichen Gemeingutes und darunter verstehe ich die ganzen Elemente oder Bereiche, die wir vorhin schon besprochen haben, wie Ackerland oder natürlich Ressourcen, aber auch Ernährung, Erziehung, Gesundheit, Wohnraum, objektive Information, die Gewährleistung einer partizipativen Demokratie, persönliche Sicherheit usw. Das halte ich für die notwendige Definition von „Gemeingut“. Ich halte die üblichen Ansätze, die vom Gemeingut sprechen, nämlich im Kontext des reinen Wirtschaftens, für nicht ausreichend. Man muss bei der Definition eines gesamtgesellschaftlichen Gemeinguts sämtliche Bereiche und Elemente des täglichen Lebens, die für unser Glück und unsere Existenz notwendig sind, berücksichtigen.
Einen weiteren Punkt, der möglicherweise wichtig ist, hatte ich auch schon angefügt, nämlich, dass man in diesem Kontext auch darüber nachdenken muss, wie „Privatbesitz“ neu gedacht werden kann. Manche Leute in anderen Ideologien sprechen davon Privatbesitz zu limitieren. Das halte ich in dieser Art für falsch, weil in meiner Vorstellung sollte die Limitierung des Privatbesitzes allein dadurch schon ein Automatismus werden, dass man den meisten existentiellen Dingen den Geldwert entzieht. Wenn eine gewisse Sache, z.B. eine Tonne Zement, kein Geldwert mehr hat, dann kann ich es zwar für mich nutzen, doch lohnt es sich kaum es zu akkumulieren, weil ich es nicht verkaufen oder eintauschen kann, auch weil ja in dem von mir skizzierten Gesellschaftsmodel ohnehin jedem anderen Menschen das gleiche Gut ebenso zusteht. Von daher erübrigt sich also die Notwendigkeit den Privatbesitz formell zu limitieren dadurch, dass man beispielsweise sagt, für jede Familie gibt es eben nur eine Einheit an Wohnraum, wie auch immer diese partizipativ demokratisch zu definieren ist. Aber es ist dann nicht mehr möglich wie beispielsweise heute in Berlin, dass eine einzige Familie oder ein Privatunternehmen 10 000 bzw. 100 000 Wohnungen besitzt, diese quasi monopolistisch vermietet und dadurch vielen tausend Familien chronische Schwierigkeiten auferlegt, oder Menschen in die Obdachlosigkeit zwingt.
MILIEU: Kann es dann trotzdem diese materiellen Unterschiede geben, auch wenn nicht mehr in dem großen Ausmaß wie wir sie heute zwischen arm und reich kennen?
Dr. Lieberg: Die wären in der ultimativen Konsequenz nicht mehr da. Ich spreche in meinem Buch immer von einem partizipativen Prozess der Reifung unserer Gesellschaft. Die Unterschiede im materiellen Wohlstand würden sich graduell verringern, weil rein psychologisch gesehen der Druck gar nicht mehr da wäre sich irgendwie zu bereichern, weil jeder Mensch schon einen hohen Lebensstandard garantiert bekäme. Die Entmonetarisierung führt außerdem dazu, dass man mit dem „mehr von etwas“, wenn man es akkumuliert, keinen substanziellen Vorteil erzielen würde.
MILIEU: Die meisten Menschen denken, dass der Lebensstandard, den wir heute aus Deutschland kennen, gar nicht für alle weltweit erreichbar wäre? Wie sehen Sie das?
Dr. Lieberg: Da haben Sie absolut Recht. Das Buch spricht auch davon, dass bei einer möglichen Umsetzung der meisten Eckpunkte dieses vorgeschlagenen politisch gesellschaftlichen Programms, es dazu führen würde, dass im Durchschnitt der rein materielle Lebensstandard der heute reichsten Länder verringert würde - die Lebensqualität, wie ein gesundes soziales und psychologisches Umfeld, Umweltschutz, persönliche Sicherheit, Grundrechte etc. würde sich aber auch in diesen Ländern entscheidend erhöhen. Sie erhöhen den Lebensstandard aus der Sicht eines Menschen, der eine andere moralische Sichtweise auf die Welt hat.
Eine Person, die heute sagt: „Ich möchte mindestens 30 verschiedene Hosen haben von diesen und diesen Marken“ würde nach vielleicht zwanzig oder dreißig Jahren, wenn diese Person tatsächlich Teil eines entsprechenden gesellschaftlichen Prozess ist, sagen: „Mein Gott, wie blöd ich doch war! Ich bin jetzt viel glücklicher mit nur wenigen Hemden, weil ich überzeugt davon bin, nicht weil ich darauf verzichte.“ Das Wort „Verzicht“ finde ich absurd. Ich möchte nicht, dass die Menschen verzichten. Ich möchte, dass die Menschen selber darauf kommen zu sagen: „Ich brauche es wirklich nicht und ich halte es schädlich für die Gesellschaft, die Überproduktion von Dingen und v.a. die Produktion von Gütern, die Neid erzeugen, die psychologisch und die Umwelt belasten.“ Da kann man natürlich Vieles benennen. Vor allem den ewigen Nieselregen der Werbung, der sich heute überall infiltriert in unser Bewusstsein, der würde dann, nach der Schaffung des gesamtgesellschaftlichen Gemeingutes, entfallen, weil es keine Firmen mehr gäbe, die die Notwendigkeit des Verkaufens als ihr Überlebenselixier betrachten müssten.
MILIEU: Sie haben gesagt, dass man v.a. die Erziehung braucht um allmählich dieses Bewusstsein für den Systemwechsel zu entwickeln. Ist das jetzt der wichtigste Punkt um praktisch den Wechsel weltweit einzuleiten?
Dr. Lieberg: Ich glaube es sind zwei Dinge. Das Eine ist die moralische Veränderung der Wahrnehmung unserer Welt bzw. dessen, was wir glauben nötig ist, um glücklich und friedlich auf dieser Welt zusammen zu leben. Auf der anderen Seite ist es ein Aspekt, der leider in verschiedenen Ideologien, wie dem Kommunismus, Sozialismus usw. auf die leichte Schulter genommen wurde, nämlich die Notwendigkeit gleichzeitig mit dieser moralischen Veränderung einen relativ hohen materiellen Lebensstandard den Menschen zu garantieren. Man kann nicht verlangen, dass ein Mensch mangelernährt ist, mit zerschlissener Kleidung rumläuft, aber gleichzeitig ein glücklicher Mensch ist, weil ja die Moral des Systems ihn auffängt. Man muss realistisch sein und jedem Menschen einen gewissen akzeptablen Lebensstandard gewähren, ansonsten hilft auch die gesamte Moral nicht, das hat die Geschichte gezeigt.
MILIEU: Also zunächst kommt der Wandel im Bewusstsein, in der Moralvorstellung. Sollen die Menschen dann über die Politik praktisch anfangen den Systemwechsel weltweit einzuleiten?
Dr. Lieberg: Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den Sie ansprechen. Wie kann man die ersten Schritte auf diesem langen Weg eines möglichen Systemwechsels unternehmen? Da kommen wir zu dem pragmatischen Anspruch, den man als Autor haben muss und den ich mir auch auferlegt habe. Wenn man darüber nachdenkt wie andere Akteure, Bewegungen usw. über die letzten Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte versucht haben wichtige Dinge zu verändern, da kam dies oft, wie z.B. bei der Anti-AKW Bewegungen in den 80er Jahren, aus der Zivilgesellschaft. Ich denke, das sind Dinge, die aus der Gesellschaft kommen müssen, aber sie dürfen da nicht einfach nur stehen bleiben. Denn da habe ich auch immer das Problem, wenn ich Demonstrationen auf der Straße betrachte. In Berlin Kreuzberg sehe ich immer wieder wichtige Demonstrationen wie jüngst gegen den Krieg in Afrin oder gegen die Mietpreisexplosion. Aber wichtig ist, dass man die Regeln der Gesellschaft auch verändern kann und die Regeln der Gesellschaft heißen in Deutschland und den westlichen Demokratien „Gesetze“. Gesetze kann man nur in einem demokratischen, parlamentarischen Kontext ändern. Das wiederum heißt, man muss politische Mehrheiten haben um Gesetze und damit das Leben verändern zu können. Deshalb bin ich auch ein großer Befürworter dafür, dass man mittelfristig eine Bewegung ins Leben ruft, bei der sich alle progressiven gesellschaftlichen Kräfte beteiligen sollten, die eine entsprechende starke Veränderung unseres Miteinanders befürworten. Diese müssten dann jedoch auch irgendwie den großen Rest der Gesellschaft mit aufnehmen, nämlich die weit über 90% der Menschen, die sich nicht politisch engagieren, die nicht die Information und Inhalte kennen, die Sie und ich jetzt z.B. erörtern. Das ist die ganz große Mehrheit unserer Gesellschaft, nicht zu sprechen von vielen anderen Staaten unserer Welt, wo eben die kritische Debatte politisch und soziologisch gesehen nur in einer verschwindenden Minderheit der Gesellschaft überhaupt präsent ist. Man sollte versuchen dies zu transferieren in einer Bewegung, die sich dann letztendlich auch dem Wähler zur Wahl stellt, d.h. eine Plattform, die wirklich diese Veränderungen möchte. Deshalb bin ich der Meinung, dass man nicht nur demonstrieren oder Bücher schreiben und lesen sollte, sondern man muss viel weiter gehen. Letztendlich muss man ultimativ versuchen auf demokratische Art Gesetze verändern zu können. Aber bevor man dahin kommt, ist der Paradigmenwechsel wichtig, um das gesellschaftliche Bewusstsein hin zu diesen ganzen Feldern, die wir miteinander besprochen haben, weit aufzustoßen, damit die Leute sehen, dass Tabus gebrochen werden können. Nehmen wir die Beispiele von vorhin wieder auf: Vielleicht sollten wir Menschen, einfach einmal darüber nachdenken, wie z.B. Kinder in der Grundschule mit anderen Werten erzogen werden könnten oder dass es zu verhindern ist, dass ein Mensch oder Unternehmen Privatbesitz haben darf wie etwa hunderttausende oder zehntausende von Wohnungen. Das sind Dinge, die gesellschaftsübergreifend interessant sind. Ich spreche oft mit gemeinhin als reaktionär bezeichnete Menschen in der politischen Szene, oder mit Menschen aus der sogenannten Mitte unserer Gesellschaft. Wenn man die gesellschaftlichen Debatten jetzt entideologisiert, was meines Erachtens fundamental nötig ist, dann können wir alle Menschen in diese evolutionären Debatten integrieren. Wir müssen aufhören von links und rechts zu sprechen, das verunsichert Menschen, das blockiert und das führt zu Verkrustungen innerhalbe der Debatte. Ich habe oft mit Menschen mit rechtem Gedankengut über Privatbesitz gesprochen und auch mit Vertretern christ-sozialen Bewegungen und auch da standen die Türen bzw. die Ohren offen. Die Akkumulation von Kapital und Macht in Politik und Wirtschaft, von Kommunikation und Information, weist immer mehr monopolisierte Züge auf. Da müssen wir uns in einem Reifeprozess selbst befreien und existentielle Thematiken unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit entideologisiert in die öffentliche Debatte tragen.
MILIEU: Was prognostizieren Sie für die Zukunft, wenn kein Systemwechsel kommt?
Dr. Lieberg: Prognostizieren kann ich natürlich nichts. Aber wenn die Menschheit in den nächsten fünf bis zehn Jahren nicht in der Lage ist an einigen fundamentalen Stellschrauben ihrer eigenen Evolution etwas zu verändern, dann wird sich unsere Gesellschaft immer mehr in eine Art von Zombiegesellschaft entwickeln, wo die wirtschaftliche und finanzielle Basis der einzige Gott sein wird, wo die intellektuelle Verdummung der Menschen noch viel dramatischer sein wird als heute. Ich glaube so ein Gespräch, wie zwischen Ihnen und mir heute, wird es höchstwahrscheinlich in zehn oder fünfzehn Jahren, wenn es in diesem Tempo so weitergehen sollte, kaum noch geben.
MILIEU: Das liegt hauptsächlich an den Medien und der Unterhaltungsindustrie...
Dr. Lieberg: Ja, das liegt natürlich auch an den Medien, die haben eine große Verantwortung in diesem Bereich. Aber das liegt natürlich auch an unsere Erziehung und Bildung, über die wir selbst entscheiden, indem wir die Parteien wählen, welche entsprechende politische Prioritäten verfolgen. Die heutige Situation der Universitäten, was die Ausrichtung der Finanzierung angeht, führt dazu, dass es immer größere Probleme gibt, nicht nur Engpässe, sondern vor allem auch was die Prioritätensetzung angeht. Gelder gibt es meistens für sogenannte zukunftsträchtige Fakultäten wie Informatik, Elektronik, Maschinenbau oder Mathematik, aber auch der Psychologie. Psychologie hört sich zwar intellektuell interessant an, aber letztendlich werden die Erkenntnisse aus der Psychologie heute leider in erster Linie dazu verwendet, um in der Werbeindustrie und Personalpolitik von Unternehmen in irgendeiner Weise das Verhalten der Menschen verständlich zu machen und ausnutzen bzw. optimieren zu können. Und Sie werden kaum eine Drittmittelfinanzierung ausfindig machen können für Kunst, Philosophie oder Literatur. Das sind allerdings Aspekte des Allgemeinwissens bzw. des allgemeinen Kulturverständnisses und der Reifeentwicklung des einzelnen Menschen, die fundamental sind.
Wenn wir in zehn bis zwanzig Jahren eine Gesellschaft haben werden, in der die Menschen im Grunde genommen keine Ahnung mehr von Geschichte oder kulturellen und schöngeistlichen Phänomenen haben, dann führt es zu dem, was ich vorhin erwähnt habe: die Entwicklung einer Zombiegesellschaft, in der die Menschen nur noch von ihrem Smartphone und dessen Inhalten geleitet werden. Aber das Smartphone wird nicht mehr in der Hand liegen, sondern es wird als Smartphone-Chip schon in unserem Körper hineintransplantiert sein, von daher brauchen wir unsere Hände dann auch immer weniger und sie werden wahrscheinlich verkümmern... D.h. man wird alles nur mit Gehirnnerven steuern können, was man gerade für einen Film sehen will oder mit wem man irgendwelche tiefsinnigen Inhalte austauschen möchte, welche Pizza man gerade in seinen Mund verfrachtet haben möchte. Das ist natürlich alles überspitzt, aber in diese Richtung wird die Reise gehen.
MILIEU: Welche Erfahrung bzw. Gegebenheit hat Sie im Zuge Ihrer jahrelangen, internationalen Arbeit bei der UN am meisten geprägt, überrascht oder vielleicht auch entsetzt?
Dr. Lieberg: Da könnte man natürlich viel zu sagen, generell würde ich erstmal festhalten, dass auf diesem kleinen Planeten fast 200 Staaten existieren, die sich in den letzten Jahrzehnten, was ihre Werte und Prioritäten anbelangt, immer mehr globalisiert haben. Im Grunde genommen wollen alle Staaten quasi Dasselbe für ihre Bürger, nämlich hohen materiellen Wohlstand, persönliche Sicherheit und alles, was dazu gehört. Natürlich hat die Religion einen großen Einfluss in gewissen Staaten und Regionen, das darf man nicht aus den Augen verlieren. Aber auch dort, parallel zur Existenz dieses Phänomens der Religion, sind die materiellen Konstanten einer modernen Welt glasklar wiederzuerkennen, die verschwinden nicht, sie sind teilweise dort noch viel ausgeprägter, weil subtiler ausgelebt.
Was mich sehr überrascht und fasziniert hat im positiven wie negativen Sinne war meine Arbeit in Nordkorea. Ich teile natürlich die Kritik der meisten, dass es sich um eine Diktatur handelt und die Menschen nicht frei sind, was zu verurteilen ist. Man muss jedoch sehen, dass die Weltgemeinschaft seit dem Koreakrieg in der 50er Jahren dieses Land mit dem härtesten Wirtschaftsembargo der Geschichte der Menschheit belegt hat und zwar wesentlich härter als das, was Kuba ertragen musste und immer noch teilweise ertragen muss. Dann hört man immer wieder Berichte darüber, auf was für einem niedrigen materiellen Niveau die Menschen dort leben, dass Menschen unterernährt sind, dass sie z.B. Fahrzeuge haben, die mit Holzkohle befeuert werden, darüber lachen die Menschen und greifen dann die Führung des Staates an und belegen ihn mit weiteren Sanktionen. Da muss man doch mal darüber nachdenken, wie sich denn ein Staat überhaupt entwickeln soll, und damit auch der materielle Lebensstandard seiner Bürger, wenn man diesem Staat überhaupt keine Möglichkeit gibt, Handel zu treiben, sich wirtschaftlich zu entwickeln. bzw. dies sogar tatkräftig verhindert. Und, war nicht die DDR auch eine Diktatur und standen dort nicht auch Atomraketen über Jahrzehnte, und dennoch betrieb auch Westdeutschland regen Handel mit diesem Land und vergab sogar Milliardenkredite. Da kann man Nordkorea nicht wirklich vorwerfen, dass die Lebensverhältnisse materiell gesehen relativ niedrig sind. Das ist ein absurder Vorwurf.
Natürlich gibt es dort auch spezielle Elemente, die man erwähnen sollte. Jeder, der mal in Nordkorea war kommt zunächst in diese Hauptstadt und sieht überhaupt keine Werbung. Das ist eine riesige moderne Stadt mit Hochhäusern und breiten Alleen und man sieht - keine einzige Werbung. Das ist, für mich zumindest, irgendwie beruhigend. Man sieht praktisch auch keine Autos. Stellen Sie sich mal Berlin oder New York ohne ein einziges Auto vor, da denkt man sofort an Weltuntergang. Auch habe ich in Nordkorea keinen einzigen Menschen gesehen, der in der Mülltonne nach Essen gesucht hat, wie es hier um die Ecke in Berlin täglich der Fall ist. Oder, vor wenigen Wochen herrschten in Berlin Temperaturen von minus 10 Grad, und unzählige Menschen, die bei uns immer wieder und immer mehr durch das sogenannte soziale Netz fallen, wussten nicht wohin und mussten im Freien schlafen. Sowas gab es und gibt es in Nordkorea meines Wissens nicht und das sollte man sich auch mal unvoreingenommen vor Augen halten. Es gibt unterschiedliche Prioritäten in verschiedenen Staatsformen, beispielsweise die Erzeugung einer großen Wirtschaftskraft für den Konsum bei gleichzeitiger suggerierter Freiheit oder etwa zunächst einmal die Deckung der existenziellen Notwendigkeit aller Mitbürger.
MILIEU: Was können wir als Individuen Ihrer Meinung nach tun, um effizient einen Beitrag zu einer besseren Welt leisten zu können?
Dr. Lieberg: Ich denke mal allein dieses Interview, das Sie angestoßen haben, ist schon ein kleiner Beitrag. Das Anregen von Gedanken ist fundamental wichtig. Darauf muss natürlich irgendwie eine gewisse Konsequenz folgen. Wenn jemand z.B. weiß, dass Plastiktüten sehr umweltschädlich sind, dann aber trotzdem immer wieder im Supermarkt beim Einkaufen die eigene Baumwolltasche vergisst und dann trotzdem wieder mit neuen Plastiktüten nach Hause kommt, dann ist das nicht so toll. Eine kleine Konsequenz auf allen Gebieten ist wichtig. Dann ist es auch fundamental wichtig über grundsätzliche Unterschiede des Denkens hinauszuwachsen. Das betrifft auch das, was ich vorhin angesprochen hatte, die Ent-ideologisierung, nicht mehr links und rechts zu denken, sondern einfach nur tabulos die fundamentalen Elemente ansprechen und sich dann auch in Bewegungen organisieren, die diese Inhalte den Menschen vermitteln.
Es geht in erster Linie um das Bewusstwerden gewisser Zusammenhänge, nicht nur im Kleinen, im Privaten. In unserer globalisierten und vernetzten Welt gibt es dieses Kleine nicht mehr, es ist implizit immer Teil eines größerer Systems. Diese Wahrnehmung ist meines Erachtens leider oft noch nicht präsent bei vielen Menschen, auch weil der Zugang zu objektiver und aufgeklärter Information beschränkt oder verstellt ist. Die ultimative Konsequenz wäre, dass man im Glauben an die Notwendigkeit einer objektiv demokratischen Grundordnung versucht Gesetze zu verändern, um, gemeinsam, unsere eigene Evolution in eine Richtung steuern zu können, von der wir als Menschheit auch überzeugt sind.
MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Lieberg!
Jean Ziegler, Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrates und Autor u.a. der Bücher Der schmale Grat der Hoffnung und Das Imperium der Schande über Albert T. Lieberg:
"Albert T. Lieberg hat ein kluges, hochaktuelles Buch verfasst. Seine Analyse der neoliberalen Wahnidee und des Konsumterrors der Warengesellschaft ist bestechend. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Lieberg zeigt den Weg zur dringend notwendigen Entmonetarisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und zur Befreiung des Identitätsbewusstseins im Menschen."