Antisemitismus in Deutschland

Documenta 2022 – oder wenn der Kampf gegen Antisemitismus zur deutschen Symbolpolitik wird

01.07.2022 - Peter Nowak

Nur wenige haben wahrgenommen, dass der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) ein Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen, das antisemitische Vorfälle in Deutschland beobachtet, vor einigen Tagen vermeldete, dass für 2021 insgesamt 2.738 antisemitische Vorfälle wie Beschimpfungen, Schmierereien und Angriffe gegen jüdische Menschen in Deutschland registriert wurden. Darunter waren 63 Angriffe und sechs Fälle „extremer Gewalt“. Nur einige Beispiele:

Auf das Klingelschild eines jüdischen Geschäfts wurde demnach »HH« geschmiert, die von Faschisten genutzte Abkürzung für »Heil Hitler«. In einem Restaurant in Heidelberg sei ein Gast mit Davidsternkette von einem Mann mit den Worten bedroht worden: »Ich bring Dich um! Ich bin Hitler.«

Es gab darüber in verschiedenen Medien einige Berichte, aber schnell ist man zur Tagesordnung übergegangen. Dafür wurde wochenlang nicht nur in den Feuilletons darüber diskutiert, wie antisemitisch die Kasseler Kunstmesse Documenta ist, die zu diesem Zeitpunkt noch niemand gesehen hatte. Aber eine Meinung haben fast alle. Zumindest von dem Banner des indonesischen Kunstkollektivs Taring Padi, das nun nicht mehr zu sehen ist, weil es schon nach wenigen Stunden abgehängt wurde. Denn, da sind sich alle einig, es zeige antisemitische Motive und die haben in Deutschland nun mal nichts verloren, so schallt es unisono aus allen ideologischen Staatsapparaten. Tatsächlich? Dann kamen die gut belegten Berichte des Rias-Netzwerk wohl aus einer Parallelwelt? 
 

Antisemitismus – nicht in Deutschland 

Es ist schon auffällig, und erklärungsbedürftig, wie über den alltäglichen Antisemitismus so nonchalant hinweggegangen wurde und dafür eine Kunstausstellung zum Symbol für den Antisemitismus erklärt wurde, der in Deutschland keinen Platz haben soll. Tatsächlich ist es leicht das Banner einer indonesischen Gruppe von Künstler*innen abzuhängen, dass schon mehr als 20 Jahre alt ist und dessen inkriminierten Motive nun keineswegs verteidigt werden sollten. Wer als Symbol für den Kapitalismus das Motiv eines orthodoxen Juden wählt, betreibt zumindest regressiven Antizionismus, der gar nicht vom Antisemitismus abgegrenzt werden kann. Doch wer dann solche inkriminierten Motive möglichst schnell entsorgt und dann noch die gesamte Documenta-Arbeiten auf weitere inkriminierte Darstellungen absuchen lässt, will vor allem das Selbstbild Deutschland pflegen, das besagt, dass die Täternation nach Auschwitz besonders berufen ist, zu entscheiden, was Antisemitismus ist. Und der, da sind fast alle von weit rechts bis ex-links einig, kommt heute vor allem von außen. Da kann man an dem indonesischen Künstler*innenkollektiv gleich die Probe aufs Exempel machen und zeigen kann, wie rigoros das wiedergutgemachte Deutschland heute gegen alle Darstellungen des Antisemitismus vorgeht. Über den ganz realen Antisemitismus in Deutschland, über den das Rias-Netzwerk informierte, braucht dann niemand mehr zu reden. Das konnte man ja in den letzten Tagen gut beobachten. Während alle Staatsapparate phrasenhaft verkündeten, antisemitische Motive wie auf der Documenta haben in Deutschland keinen Platz, waren die Meldungen über die antisemitischen Taten kein großes Diskussionsthema. 

 

Wehret den Anfängen – bei der Kunst?

Nun könnte man argumentieren, es ist doch trotzdem positiv, wenn nun die deutschen Staatsapparate wenigstens bei einer Kunstausstellung so schnell einschreiten. Doch dabei handelt es sich gerade um eine Symbolpolitik, die eben verhindert, dass der real existierende Antisemitismus in Deutschland zum Thema wird. Die Antisemit*innen, die sich da gegen reale oder vermeintliche Juden austoben, brauchen dafür kein Kunstkollektiv aus Indonesien. Im Gegenteil wollen sie sicher aus anderen Gründen die in der aktuellen Documenta gezeigten Arbeiten schnell wieder loswerden. Bekennende Deutsche klagen darüber, dass sie auch in der Kunst, die hierzulande ausgestellt ist, längst nicht mehr im Zentrum stehen. Denn Kunst ist nun mal kosmopolitisch und das ist den Patrioten aller Länder ein Gräuel. Darum wird da, wo sie die Macht dazu haben, auch durch die Staatsapparate die Kunst reglementiert und Künstler*innen werden massiv angegriffen. Das kennen wir aus der Türkei, aus Russland, Ungarn, der Ukraine aber auch aus Ländern des globalen Westens. Daher ist es besonders fatal, dass nun auch in Deutschland den Staatsapparaten nur einfällt, dass bestimmte Werke weg müssen und alles noch einmal kontrolliert werden muss. Dabei wird die Autonomie der Kunst massiv in Frage gestellt. Kunst, auch das war ein positives Erbe der bürgerlichen Revolution, darf provozieren und verstören. Es dürfen sich auch Menschen oder auch Menschengruppen davon beleidigt fühlen, ohne dass ein Staatsapparat einschreitet. Das war eine Errungenschaft der bürgerlichen Revolution. Immer wieder sorgten Kunstwerke für einen gesellschaftlichen Aufschrei, für Rufe nach Zensur oder gar nach Repressalien gegen die Künstler*innen, zu oft wurden die auch umgesetzt. Es ist daher bedenklich, wenn heute bis linksliberale und linke Kreise diese besondere Autonomie der Kunst nicht mehr verteidigen.

Der konservative Kunsttheoretiker Bazon Brock sah seine Warnungen vor einer Politisierung der Kunst durch die Documenta nur einmal bestätigt und monierte vor allem, das die individuelle Künstlerpersönlichkeit heute der Vergangenheit angehört. Dass ist aber nur das zeitgemäße Lamento von Konservativen. Tatsächlich sorgte schon seit Jahrhunderten Kunst für politische Auseinandersetzungen und der Tod der Künstlerpersönlichkeit wird auch immer wieder beklagt. Dabei gab es gerade in Zeiten, in denen die Arbeiterbewegung Erfolge zeigte immer Künstler*innen, die in Kollektiven arbeiten. Einen ersten Aufschwung bekamen diese Bewegung in der frühen Sowjetunion. Mit dem weltweiten gesellschaftlichen Aufschwung nach 1968 wurde diese linke Tradition wiederaufgenommen, beispielsweise durch die Gruppe Dziga Vertov, die aus später bekannten linken Filmemacher*innen bestand. Schon damals lamentierten die Konservativen aller Couleur über den Tod der Künstlerpersönlichkeit. Hier hat Brock also nur eine alte Platte wieder aufgelegt. Es ist nicht der einzige Versuch, die Antisemitismusdiskussion zu nutzen, um auch die Kunst noch stärker unter die Kontrolle ideologischer und repressiver Staatsapparate zu stellen. Es ist die Schwäche der Linken, dass sie entweder dazu schweigt oder sich selber noch daran beteiligt.

Ein anderer Umgang wäre möglich gewesen

Dabei hätte gerade eine Kunstmesse wie die Documenta ganz anders mit diesen inkriminierten Installationen umgehen können. Warum nicht Diskussionen auch mit transnationalen Publikum über regressive Darstellungen von Juden in der Kunst organisieren? Warum nicht mit den indonesischen Künstler*innen über den Kontext diskutieren, in denen vor über 20 Jahren das inkriminierte Werk entstand? Da müsste auch über die Geschichte der Verfolgung und Ermordung von hunderttausenden indonesischen Linken nach dem Militärputsch von 1965 diskutiert werden, für den der globale Westen auch die BRD damals Hilfestellung gab. Das indonesische Künstler*innenkollektiv sieht hier Arbeit zumindest im Kontext und stellt die Bezüge selber her. Dann hätte man fragen können, wieso linke Künstler*innen bei der Darstellung von Juden immer wieder Nahe an antisemitische Stereotype geraten. Dafür gibt es ja nicht nur in der traditionskommunistischen Tradition viele Beispiele, auch Anarchist*innen und Rätekommunist*innen blieben davon nicht verschont.

Dass es hier um kein historisches Thema geht, kann man daran zeigen, dass vor gerade mal 20 Jahren beim Protest gegen das Welt-Economic-Forum (WEF) im schweizerischen Davos das Motiv eines goldenen Kampfs als Symbol für den Kapitalismus gewählt wurde. Damals haben linke Gruppen auf die antisemitische Konnotation dieser Motive hingewiesen und damit in der globalisierungskritischen Bewegung eine rege Debatte ausgelöst. Vor 20 Jahren ist auch das inkriminierte Banner in Indonesien entstanden, das nun in Kassel nicht mehr gezeigt werden kann. Warum nicht hier eine Brücke schlagen und auch diskutieren, wie in Theorie und Praxis mit solchen regressiven Motiven umgegangen werden kann, ohne nach dem Staat zu rufen? Wer sich jetzt freut, dass die Staatsapparate durchgegriffen haben und klar im unerträglichen Neusprech eine „Aufarbeitung“ fordern, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass das Banner für kurze Zeit in Kassel zu sehen war, der will das Bild von einem Deutschland pflegen, in dem Antisemitismus keinen Platz hat, wenn er von einem indonesischen Künstler*innenkollektiv kommt. Dann braucht man über den alltäglichen Antisemitismus made in Deutschland nicht mehr zu reden. 

 

Peter Nowak hat 2015 im Verlag Edition Assemblage das Buch „Eine kurze Geschichte des Antisemitismusstreits in der deutschen Linken“ herausgeben. 

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