Digitale Misogynie
01.09.2022 -Wie Sie vielleicht gehört haben, liebe LeserInnen, wurde die 36-jährige österreichische Ärztin Lisa-Maria Kellermayr Ende Juli tot in ihrer Praxis aufgefunden. Sie hinterließ drei Abschiedsbriefe. In einem der Briefe bedankte sie sich bei einer ihrer Mitarbeiterinnen. Der zweite Brief ging an die Ärztekammer, von der sie sich im Stich gelassen gefühlt hatte. Und im dritten Brief verwünschte sie die Polizei, weil diese ihr nicht geholfen hatte.
Die verbale Gewalt gegen Kellermayr begann im November 2021. Wieder und wieder erhielt sie detaillierte Beschreibungen, wie sie und ihre Mitarbeiterinnen gefoltert und getötet werden würden. Es waren Impfgegner und Coronaleugner, die ihr E-Mails mit diesen Drohungen schickten und weitere gewaltsame Hassbotschaften in den sozialen Medien posteten. Als Strafe dafür, dass Kellermayr sich öffentlich für die Coronaimpfung eingesetzt hatte. Wieder und wieder bat sie die Behörden um Hilfe. Doch die Polizei riet ihr, sich nicht „in die Öffentlichkeit zu drängen“. So gab sie nach und nach ihr ganzes Geld für einen privaten Sicherheitsdienst aus und schloss im Juni schlussendlich ihre Praxis.
Nur zwei Tage vor ihrem Suizid stieß ich auf eine Dokumentation aus dem Jahre 2021 in der Arte-Mediathek. Die Dokumentation hieß #dreckshure und stammte von den belgischen Journalistinnen Florence Hainaut und Myriam Leroy. So wie Kellermayr gehören auch die beiden Journalistinnen zu den 73% der Frauen weltweit, die von digitaler Misogynie betroffen sind.
„Digitale Misogynie“ ist ein Begriff, der den Hass sowie die Bedrohungen und Schikanen gegen Frauen in der digitalen Welt umfasst. Weil Frauen es wagen, ihre Meinung öffentlich zu äußern, werden sie mit Vergewaltigung, Folter und Tod bedroht. Viele werden auch gedoxt, was bedeutet, dass jemand ihre privaten Daten veröffentlicht, etwa die Adresse oder Telefonnummer.
Die Arte-Dokumentation erzählte von Frauen aus Ländern wie Australien, Österreich, Belgien und Frankreich, die als Journalistinnen, Politikerinnen, Aktivistinnen und Autorinnen arbeiteten und im Internet attackiert wurden, weil sie es gewagt hatten, ihre unkonventionelle Meinung laut zu äußern. Eine der Frauen, beispielsweise, eine Anwältin und Aktivistin, hatte es gewagt im Fernsehen zu sagen, dass eine Ehe keine Lizenz für Sex sei und dass beide Eheleute ihre Zustimmung geben müssten. Für diese Aussage wurde sie mit Vergewaltigungs- und Morddrohungen bestraft. Der Mann einer anderen Frau, die als Journalistin und Autorin arbeitete, erhielt diskriminierende Kommentare, nachdem sie öffentlich ihre Meinung gesagt hatte. Er wurde als Weichei beschimpft und beschuldigt, kein echter Mann zu sein, weil er seine Frau nicht unter Kontrolle hatte.
Sogar in unserer modernen westlichen Welt leben wir immer noch in einer Gesellschaft, in der Männer sich durch forsches Auftreten und Durchsetzungsfähigkeit auszeichnen sollen, wohingegen Frauen sich besser zurückhaltend und nachgiebig verhalten. Es ist kein Zufall, dass Anwältinnen und Politikerinnen generell nicht so ernst genommen werden wie ihre männlichen Kollegen. Während Männer aggressiv ihren Standpunkt verteidigen sollen, dürfen Frauen nicht die gleiche Leidenschaft zeigen. Und wenn die Frauen trotzdem ihre Stimme erheben, werden sie dafür mit - hauptsächlich von Männern stammenden - hasserfüllten Kommentaren und Drohungen bestraft.
Täter berufen sich gerne auf ihr Recht auf Redefreiheit. Sie nehmen fälschlicherweise an, Redefreiheit wäre ein Freibrief dafür, andere bedrohen zu dürfen. Zudem nehmen sie fälschlicherweise an, die Redefreiheit gelte nur für Männer. Es ist in der Tat ironisch, dass diese Täter Frauen genau deswegen angreifen, weil die es wagen, ihr Recht auf Redefreiheit auszuüben. Mit ihren Hassbotschaften wollen die Täter sie zum Schweigen bringen. Und wenn sich die Frauen wehren sollten, so wie es Kellermayr öffentlich tat, werden sie mit noch mehr Hass und Drohungen bestraft.
Obwohl die Hälfte der schikanierten Frauen die Täter kennt, werden diese nur selten strafrechtlich verfolgt oder gar verurteilt. Stattdessen wird den Frauen üblicherweise gesagt, bei den Drohbotschaften handle es sich eben um den zu zahlenden Preis für ihr Auftreten in der Öffentlichkeit. Außerdem wird ihnen der gleiche Ratschlag gegeben, den auch Kellermayr erhielt: sich ruhig verhalten und über weniger kontroverse Themen reden.
Die einzelnen Plattformen, auf denen Hassbotschaften gepostet werden, tragen kaum etwas zur Bekämpfung digitaler Misogynie bei, wenngleich sie die Täter ganz einfach identifizieren könnten. Aber warum sollten sie die Täter auch der Polizei ausliefern? Hass verkauft sich nämlich sehr gut, da gewalttätige Kommentare besonders viele Klicks hervorrufen und den Plattformen daher viel Geld einbringen. Wie der belgische Soziologe Renaud Maes in der Arte-Dokumentation erklärte, werden Websites mit solchen Kommentaren weitaus öfter besucht als andere. Je aggressiver und brutaler die Beiträge sind, umso populärer wird die Website. Wenn die Gewalt schließlich den Punkt erreicht, wo es sogar für die Followers zu viel ist, verliert die Website an Popularität. Doch bis diese Schwelle erreicht ist, gibt es sogar genügend Platz für Morddrohungen.
Natürlich bringen solche Drohungen Frauen zum Schweigen. Besonders dann, wenn sie nicht nur um ihr eigenes Leben fürchten, sondern auch um das Leben ihrer Familie oder ihrer MitarbeiterInnen und PatientInnen, wie es bei der Kellermayr der Fall war. Laut Anna-Lena von Hodenberg von HateAid, einer Beratungsstelle für Betroffene von digitaler Gewalt in Berlin, ist das Internet der wichtigste öffentliche Raum, den wir heute haben. Wenn wir als Gesellschaft also nur jenen eine Bühne geben, die am lautesten schreien, und dadurch viele andere Stimmen zum Schweigen bringen, dann wird das allmählich die demokratische öffentliche Debatte auslöschen. Sie hat absolut recht. Eine gesunde Demokratie lebt vom Austausch verschiedener Meinungen in respektvollen Gesprächen miteinander. Wenn wir diese Meinungsvielfalt nicht beschützen, werden wir über kurz oder lang unsere Demokratie verlieren.
Kellermayrs Suizid hat in Österreich zu einer heftigen Diskussion über Hassbotschaften im Netz geführt. Eine Diskussion, die schon lange überfällig war. Nicht nur in Österreich, sondern auch global. Ich bitte Sie, liebe LeserInnen, dieser Diskussion beizutreten. Informieren Sie sich über Kellermayrs Geschichte sowie digitale Misogynie und erzählen Sie anderen davon. Helfen Sie mit dafür zu sorgen, dass es nicht nur bei Worten bleibt. Lassen Sie uns alle eine Gemeinschaft bilden, die sich klar gegen digitale Misogynie stellt. Eine Gemeinschaft, die für eine respektvolle demokratische Debatte steht. Eine Gemeinschaft, in der jeder und jede von uns, Männer wie auch Frauen, die Meinung laut äußern darf. Eine Gemeinschaft, in der Betroffene ernstgenommen und beschützt werden. Eine Gemeinschaft, in der es keinen Platz für Hassreden gibt.