Die Leviathane vom Mittelmeer
31.08.2013 -Der Nachrichtenmarathon um die arabischen Despoten scheint kein Ende zu nehmen und noch freizügiger ist man mit der Vermittlung von Wertungen und erwünschten Ergebnissen. Wenn man an die Bilder aktueller Gegebenheiten von Nordafrika über den Nahen Osten bis nach Südeuropa denkt, so scheint der Seeungeheuermythos, der Leviathan, eine Prophezeiung zu sein.
Unser Wille Geschehe
Laut dem englischen Philosophen Thomas Hobbes ist der Leviathan das Seeungeheuer, das aus den Meerestiefen emporkommt und die absolute Macht über jeden Ort und alle Menschen ergreift. Ähnlich wie das Seeungeheuer unbezwingbar zu sein scheint, erlangt der Staat eine allmächtige Stellung. Auf politischer Ebene sind zwei Formen des Leviathans zu unterscheiden. Auf der einen Seite das Produkt aller Gesellschaftsglieder, welches zur mehrheitlich gewünschten Form des Staates resultiert. Auf der anderen Seite ist es eine beliebig geartete und ersehnte Herrschaft, die sich über die Menschen erstreckt, um diese in ihrem Schatten gleichzeitig zu kühlen und zu wärmen. Letztere wird gefürchtet und zu gleich erhofft.
Veränderte Probleme
Es grenzt an Prophetie vom Seeungeheuer aus den Tiefen des Meeres zu sprechen, wenn man dieses Bild auf das Mittelmeer überträgt. Den Ansatz finden wir bereits im Rahmen der sogenannten Arabellion. Beginnend in Tunesien und dem Sturz Ben Alis, weiter über Ghadhafis Libyen, Ägypten, Syrien und den nach Libanon überschwappenden Konflikt bis hin zu Massenkundgebungen in der Türkei ist der Aufbruch einer neuen Kraft zu sehen. Auch die verheerenden Wirtschaftskrisen Griechenlands und Spaniens, die durch Massenarbeitslosigkeit eine Prüfung für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie darstellen. Die Probleme der arabischen Mittelmeerstaaten, der Türkei und der europäischen Anrainer können unterschiedlicher nicht sein. Gleichzeitig scheinen wir uns in einer Ära des Umbruchs im wirklich gesamten Mittelmeerraum zu befinden, denn fast in Vergessenheit geraten dabei die Massendemonstrationen von 2011 in Israel. Derzeit ging es den Menschen auf dem Tel Aviver Rothschild-Platz ebenfalls um Armut, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit.
Eins haben jedoch alle Gegebenheiten gemeinsam: ob eine bestimmte Generation zu einem gewissen Zeitpunkt durch Revolution einem Machthaber zur Spitze verholfen hat oder sich die Menschen durch ihre Steuermoral und flexible Verantwortung gegenüber ihrem Land und somit der eigenen Gesellschaft gegenüber zum Teil selbst in eine wirtschaftliche Schieflage geführt haben, die Menschen haben sich ihren Leviathan erschaffen und dieser ist aus derselben Gesellschaft hervorgegangen.
Während seiner langwierigen Amtszeit galt der ehemalige ägyptische Präsident Husni Mubarak als größter und wichtigster Partner des Westens in Nordafrika. Kaum kippte das Stimmungsbarometer am Nil, wurde medial auch schon das Urteil hierzulande ausgesprochen und mit einer Selbstverständlichkeit eine Seelenverwandtschaft mit den Demonstranten am Tahrir-Platz hergestellt. Das Volk wird sicherlich wissen, wieso es Veränderungen braucht und versucht sich, bis heute, vom Paternalismus zu befreien. Es folgten Wahlen, die Muslimbrüder gewannen und Muhammad Mursi gewann. Das Volk bekam also seinen Willen, seinen neuen Leviathan. Ohne Zweifel suchten die Menschen Befreiung von einem Übel; doch ist der neu erwählte Leviathan wirklich ein Befreiungsschlag oder ein schlimmeres Übel? In absehbarer Zukunft werden wir es erfahren.
Was ist mit den aktuellen Forderungen in Ägypten? Was ist nun mit den Rücktrittsforderungen auf den Straßen Kairos und Alexandrias nun? Noch zu Beginn des Monats Juli verkündete Mursi, dass er als demokratisch gewählter Präsident nicht daran denke zurückzutreten. Technisch mag dies stimmen, doch an dieser Stelle stellt sich dieselbe Frage wie an alle anderen Leviathane: ist es das wirklich wert einen Bürgerkrieg zu riskieren, nur um auf seinem Recht auf Macht zu beharren? Wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, dass ein Großteil des ägyptischen Volkes in der Tat hinter Mursi steht. Mit anderen Worten, auch hier geschieht der Wille des Volkes.
Nicht der Unmut des Volkes ist infrage zu stellen, sondern die Art der Ausdrucksform. Die Türkei kann hier als ein positives Beispiel herangezogen werden; der Stimmung der Demonstranten fehlt es keineswegs an Intensität im Vergleich zu ihren nordafrikanischen Mitmenschen, Erdogans Bereitschaft nicht einlenken zu wollen steht der Entschlossenheit Alis, Mubaraks oder Mursis im nichts nach und dennoch sehen die Protestierenden von jeglicher Gewaltanwendung ab.
Dehnbare Fakten
Irritierend ist die Doppelmoral, die Menschen und Medien praktizieren; für gewöhnlich werden Umbrüche von engstirniger One-Way-Kritik und Kompromisslosigkeit begleitet. Mit einer Selbstverständlichkeit werden initiierte Neuerungen begrüßt, unabhängig von ihren oft fehlenden Konturen. Ohne an dieser Stelle Muammar Ghadhafi den Friedensnobelpreis zuteilen zu wollen, sollte ein Blick auf den Status-Quo Libyens riskiert werden: ein völlig desorientiertes Land ohne jegliche Perspektive, insbesondere für junge Menschen. Die Ziellosigkeit bahnte sich bereits im Bündel verschiedenster rebellierender Gruppen an. Womöglich blüht Syrien ein ähnliches Schicksal. Kaum sah man Ghadhafis Macht schwinden, wurde die Öffentlichkeit der Bundesrepublik förmlich von Hasstiraden gegen den exzentrischen Diktator umschlungen, der als bedeutender Wirtschaftspartner Deutschlands in die Geschichte eingehen dürfte.
Ähnlich wie wir beim Begriff Diktatur von einer politischen Diktatur, einer Diktatur der Zeit oder des Kapitals sprechen, bestehen verschiedene Arten des Leviathans. In jeder Form können wir durch Initiative Veränderungen einleiten: durch Verantwortung beim Wählen, wenn wir es überhaupt tun, durch eine aktive Gestaltung unseres Alltags, wenn wir das Gefühl haben von der Zeit überrollt zu werden oder durch unser Konsumverhalten, um nur einige Beispiele zu nennen.
Sicherlich ist es schwierig, eine seit Jahrzehnten etablierte Machtstruktur zu kippen und häufig wird der erste Schritt von einigen wenigen Bevölkerungsschichten wie Intellektuellen, Studenten oder Arbeitern initiiert. Trotzdem ist es vor jeder Eskalation im Sinne aller Bürger ihre eigenen Vorstellungen anhand konkreter Ziele und Werte abzuwiegen.
Ob wir Mursi oder Hitler nehmen, ohne dass hier ein ernsthafter Vergleich in Betracht gezogen werden kann, die Macht wurde beiden durch das Volk übertragen und die Quelle sämtlicher Konsequenzen ist in demselben zu suchen. Interessant ist in diesem Zusammenhang überhaupt die Entstehung des Mythos um den Leviathan. Bedenkt man, dass es sich um nichts weiter handelt, als um den Willen des Volkes, so kann, ähnlich wie bei Verschwörungstheorien, diese Mystifizierung der Macht als eine klassische Schuldübertragung verstanden wird; schuldig ist immer ein Anderer oder ein äußerer Umstand. Ein Aufbruch, notfalls ein blutiger, ist somit ein Hilfeschrei der Masse, die das zu bekämpfen versucht, was sie erschaffen hat. Die Ethik ist dabei sekundär.
Mut zur Mündigkeit
Der moderne Staat soll für die Menschen da sein. Er dient als Einheit, die Schutz und Entfaltungsspielraum seiner Bevölkerung gewährleisten soll; folglich hat das Volk die Entscheidungsgewalt über seine Gestaltung. Jemandem an die Staatsspitze zu verhelfen, beinhaltet Hoffnung und Vertrauen. Ironischerweise zeigt die Geschichte, dass die Machthaber im Gegenzug mit Anmaßung reagieren. Das Vertrauen wurde und wird häufiger mit Erhabenheit verwechselt. Der Leviathan wird anmaßend und zum leibhaftigen Ungeheuer. Nicht selten konnte eine Sehnsucht der Menschen nach einer messianischen Leitfigur, einer Art politischer Erlöser beobachtet werden; dies erwies sich als ein Katalysator der Anmaßung. Gerade die Arabellion brachte ambitionierte islamitische Kräfte in den demokratischen politischen Wettbewerb. Offenbar existiert eine breite Sympathie für Heilsversprechungen in Form der "Errichtung eines sechsten Kalifats" und des Missbrauchs religiöser Gefühle als Allzweckwaffe gegen Korruption, Kriminalität und Arbeitslosigkeit. Fakt ist jedoch, dass es auch solchen "falschen Propheten" gestattet ist, am gesellschaftlichen und politischen Tagesgeschehen mitzuwirken. Und im Sinne von Meinungsfreiheit und Demokratie besteht weder das Recht noch ein Grund zur Inhibition dieser Entwicklung. Die Konsequenzen trägt schließlich die Gesellschaft selbst und kann auf gleichen Wegen zur Veränderung des Status-Quo beitragen.
In einem Interview vom Januar 2012 mit dem Parteichef der damals frisch gewählten An-Nahdha-Partei in Tunesien, Raschid Ghannouchi, äußerte er, dass das Volk die Regierung bekommen solle, die es verdiene. Kritik ist angemessen, sofern sie ausgewogen ist und nicht als Synonym für Intoleranz verwendet wird.
Streit entsteht dann, wenn mindestens zwei Parteien auf ihre Ansprüche pochen und nicht bereit sind, auf eine Gegenpartei zuzugehen. Das heißt, dass Kritik auch gleichzeitig Maßstäbe fordert, nach denen geurteilt wird unter Vermeidung von Anmaßung. Dafür müsste es jedoch eine Norm geben, die als Richtwert dient. Hinterfragen wir wirklich anmaßungslos unsere Motive und Werte, bevor wir ein Urteil auf Basis von Fernsehen, Zeitung oder Twitter fällen?
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