Kunst als Kritik

Die Leipziger globaLE und die linke Kritikunfähigkeit

01.09.2022 - Peter Nowak

Statt kritisch über einen Film zu diskutieren, wollen auch kritische Geister ihn immer öfter gleich verhindern.

„Ihr habt Lust auf globalisierungskritisches Kino in Leipzig und spannende Diskussionen? Dann seid ihr bei der globaLE genau richtig!“ Mit diesem Spruch wirbt das Leipziger Filmfestival globaLE für ihr gesellschaftskritische Sommerfilmprogramm. Es ist während der globalisierungskritischen Bewegung vor 15 Jahren entstanden und hat deren Niedergang überlebt. Unterstützt wird es von der globalisierungskritischen Organisation Attac in Leipzig. Natürlich ist eine solche gesellschaftskritische Veranstaltung den Staatsapparaten verdächtig. Doch jetzt könnte das Filmfestival an der Kritikunfähigkeit der Linken scheitern. Am 18. August wurde dort der Film "Ukraine on Fire" des bekannten US-Regisseurs Oliver Stone gezeigt, der keineswegs objektiv ist, und das Adjektiv russlandfreundlich kann man ihm sicher geben. Mir sind sofort verschiedene Kritikpunkte eingefallen, als ich den Film einmal gesehen habe. So scheint der Regisseur bei aller Geopolitik zu vergessen, dass es reale materielle Hintergründe gibt, die viele Menschen in der Ukraine motivieren, sich eher auf die Seite der EU als Russlands zu stellen. Sie sind nicht einfach Marionetten einer westlichen Geopolitik, wie es im Film scheint. Zudem wird kein kritisches Wort über die Rolle Russlands in dem Konflikt verloren. 
 

Einseitig pro-russisch oder pro-ukrainisch?

Nur ist die Aufregung über den einseitig russlandfreundlichen Film nicht etwas heuchlerisch angesichts der Tatsache, dass ja auch ein Großteil der Ukraine-Berichterstattung hierzulande auch einseitig ist, aber eben einseitig pro-ukrainisch? Das sieht man alleine daran, dass die Toten des Brandes im Gewerkschaftshaus von Odessa am 2. Mai 2014 hierzulande kaum interessieren. Es handelte sich um Aktivist*innen des Anti-Maidan, einer pro-russischen Gegenbewegung gegen den Maidan von Kiew. Die Menschen sind in Auseinandersetzungen mit nationalistischen Ukrainer*innen erst aus ihrem Zeltlager verjagt worden. Sie wollten sich in das Gewerkschaftshaus retten, das aber von den Nationalisten in Brand gesetzt wurde. Wer aus dem Fenster springen wollte, wurde weiter geschlagen. Nun handelt es sich bei der Anti-Maidan-Bewegung sicherlich nicht um Pazifist*innen, es gab vorher schon Auseinandersetzungen mit den ukrainischen Nationalisten. Doch kaum jemand fordert in Deutschland Aufklärung über die Ereignisse und eine Bestrafung der Täter. Dafür wird ein Film wie Lauffeuer von Ulrich Heyden, der den Toten im Gewerkschaftshaus ein Gesicht gab und der mit den Angehörigen der Opfer redete, nicht nur pauschal als russische Propaganda verunglimpft. Linke Einrichtungen, die den Film zeigen und zur Diskussion stellen, werden an den Twitterpranger gestellt. Oliver Stone wiederum hat das Massaker von Odessa in seinen Film drin, wie auch andere sachlich richtige historische Zusammenhänge.

Von YouTube gesperrt, von manchen Linken gecancelt

Zudem sollte die Frage erlaubt sein, warum ein solcher sicher diskussionswürdiger Film von YouTube gesperrt wurde. Heißt es nicht immer, dass in der Ukraine die westlichen Werte verteidigt werden, und dazu gehört die Freiheit, auch äußert kritikwürdige Filme sehen und diskutieren zu können? Anderseits steht ein solcher Film, auch wenn er Opfer von Zensurmaßnahmen wurde, natürlich nicht außerhalb der Kritik. Ganz im Gegenteil sollte der Unterschied zwischen einer grundsätzlichen antimilitärischen Haltung zum Ukraine-Krieg und der Übernahme von russischen Narrativen ganz klar herausgestellt werden. Man kann Oliver Stones Film vorwerfen, dass er an einigen Stellen russische Narrative übernimmt. Das sollte wiederum kein Grund sein, ihn nicht auf einem Festival wie der globaLE zu zeigen und kritisch zu diskutieren. Man könnte das eingangs zitierte Statement des Filmfestivals ernst nehmen und sich auf eine inhaltliche Auseinandersetzung zu dem Film einlassen. 

 

Verbieten statt diskutieren

Dabei ist es besonders unverständlich, dass es zur Filmvorführung eine Demonstration gab, an der neben ukrainischen Aktivist*innen auch Teile der Leipziger Linken teilgenommen haben. Sie hatten die erklärte Absicht, den Film zu verhindern und nicht, ihn argumentativ auseinanderzunehmen. Nun könnte man denken, hier handelt es sich um eine Provinzpose der Leipziger Linken. Doch hier geht es um ein grundsätzliches Problem und das heißt: linke Kritikunfähigkeit gepaart mit einem postmodernen Verständnis von Bilder- und Wortverboten. Böse Wörter und böse Bilder sollen möglichst nicht mehr gezeigt und gebannt werden. Das führt im akademischen Diskurs in den USA beispielsweise dazu, dass selbst klar antirassistische Texte von Martin Luther King nach dem Willen mancher Studierender nicht mehr gelesen werden sollen, weil dort das N-Wort verwendet wird. Würde man diese Logik weitertreiben, könnten auch Filme und Texte über die Shoah nicht mehr behandelt werden, weil dort natürlich „verstörende Bilder und Wörter“ wie es heute gerne heißt, verwendet werden. Doch wie will man das Menschheitsverbrechen wie die Shoah mit nichtverstörenden Bildern und Worten darstellen? Dabei geht es nicht darum, eine Menge besonders grausamer Bilder zu verwenden. Claude Lanzmann hat mit seinen Monumentalwerk „Shoah“ gezeigt, dass es anders geht. Der eindringlichste Film über die Vernichtung der europäischen Juden verwendet keine Bilder von Leichenbergen. Gerade deshalb ist er aber besonders verstörend und das ist als Auszeichnung gemeint. Ein Film über die Shoah muss verstören, ein Film über den Kampf gegen den Rassismus in den USA auch. Es ist dieser Anspruch, von solchen Bildern und Wörtern verschont zu bleiben, der kritisiert werden muss. Statt mit einer Verve gegen verstörende Worte und Bilder zu kämpfen, könnten sie doch genutzt werden, um gegen die mehr als verstörende Realität zu kämpfen, die dort nur gezeigt wird. 

 

Verbotsdebatte auf der Documenta 

Nun könnte man sagen, vom Streit um einen Film auf einem Leipziger Filmfestival zum Streit um verstörende Bilder und Texte an US-Universitäten ist es ein weiter Weg. Doch es ist eine Neujustierung des Subjekts im Spätkapitalismus, die dafür sorgt, dass viele nicht mehr nach gesellschaftlichen Kontexten suchen und die verstörenden Filme und Texte nicht leben, um die Realität zu verändern. Diese Subjektbildung ist auch bei der Diskussion um die diesjährige Documenta in Kassel zu beobachten. Es geht hier nicht darum zu bestreiten, dass es dort regressiv antizionistische und antisemitische Motive gab und gibt. Kritikwürdig ist aber die fast obligatorische Forderung, diese verstörenden Bilder und Texte müssen verschwinden. Überboten wurde das mit der Forderung, gleich die ganze Documenta zu schließen.

Da machen sich dann Kunstkritiker*innen die Mühe und gucken sich stundenlang die Tokyo Reels an – das sind Filmrollen, die Aktivist*innen der japanischen Palästina-Solidaritätsbewegung vor 50 Jahren produziert haben und die wieder aufgefunden wurden. Was stellt Jakob Baier in der TAZ dar: „Antisemitische Filme auf der Documenta“, die vor Israel-Hass strotzen. Dabei ist es keine Überraschung, dass Filmmaterial der japanischen Palästina-Solidaritätsbewegung genau diese Inhalte enthält. Es ist legitim, die Frage zu stellen, warum die auf der Documenta, wenn auch an einem entlegenen Ort in einer alten Fabrikhalle in Kassel-Bettenhausen gezeigt werden müssen. Doch man könnte die Filme auch nutzen, um über den regressiven Antizionismus und die Übergänge zum Antisemitismus zu diskutieren, der in großen Teilen der damaligen Palästina-Solidaritätsbewegung zu finden war. Da waren natürlich die Gruppen in der BRD nicht ausgenommen. Es ist einer Israel-solidarischen Linken in Deutschland zu verdanken, dass wir hier in der Diskussion schon bestimmte Grundlagen haben. Es ist aber umso unverständlicher, wenn darauf nicht aufgebaut und zurückgegriffen wird. Dabei fordert Baier selber „die antisemitische Propaganda zu dekonstruieren und zu kritisieren“. Aber das ist ja etwas Anderes, als die Filme oder sogar gleich die ganze Documenta abzuschalten. 

 

Im Westen nichts Neues und der Frontkämpfermythos

Da sollte man sich an historische Reminiszenzen erinnern. 1930 versuchten Rechte, darunter die damals gerade aufstrebende NSDAP, in der Weimarer Republik den Film „Im Westen nichts Neues“ zu verhindern, weil da der nationalistischen Heroisierung des 1. Weltkrieges das elende Sterben in den Schützengräben von Verdun künstlerisch entgegenstellt wurde. Der Film wurde gezeigt und gilt noch immer als ein Klassiker des Antikriegsfilms. Heute würden sich vielleicht Linke an dem Film stören, weil der Held nicht zum Desertieren aufruft, sondern nach einem Kurzurlaub so schnell wie möglich zurück an die Front wollte, wo er dann auch umkam. Hier wird tatsächlich der Mythos der Frontkämpfergeneration bedient, den auch Rechte verwendeten. Da wird dann das elende Leben und Sterben an der Front beschworen, weil sie angeblich gleich waren. Dagegen wurden die „dekadenten“ Menschen verurteilt, die hinter der Front weiterleben und vielleicht wie in „Im Westen nichts Neues“ nationalistische Kriegsmythen erzählen. Andere wurden verurteilt, weil sie vielleicht durch Streiks oder Demonstrationen hinter der Front den Krieg verkürzen wollten. Diese Kritik an dem Filmprotagonisten vom „Im Westen nichts Neues“ ist völlig berechtigt und genauso richtig war es, dass der Film nie von Linken bekämpft wurde. So wurde er eben zu einem wirkungsmächtigen Antikriegsfilm, obwohl er auch eine andere Lesart zulässt. Das erinnert einmal mehr an die Autonomie der Kunst, die eben nicht einfach politische Propaganda ist. Diese Autonomie der Kunst, die eben keine Kritiklosigkeit bedeutet, sollte auch heute verteidigt werden in Leipzig genau wie in Kassel oder wo auch immer. 

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