Gedicht

Der goldene Punkt

01.12.2016 - Bele Krüger

Dieses Gedicht ist dem weißen Löwen gewidmet.

Tief atme ich ein. Ich spüre die Sonne auf meiner Haut, höre den Lärm der Cava Baja unter mir, vier Stockwerke oder sind es fünf? Einzig die ziervollen Gittereisen, die sich genüsslich und hoffentlich weiterhin standhaft in der Sonne räkeln, trennen mich von einem ungewollten Hinuntergleiten. Unten bewegen sich geschäftige versunken treibende Massen auf der Suche nach Ablenkung und Amüsement. Ich tue es den golden glänzenden Gitterstäben gleich und räkel mich ebenso in der Sonne, versunken in mir selbst, wie die Gitterstäbe, die kreisförmig angeordnet sind, in sich verschlungen, wie ein Schneckenhaus und in ihrem Zentrum, sanft und unbeweglich in der Mitte ruhend, ihr Kern, ihr Endstück, ihr Kopf oder sollte ich lieber sagen, ihr Herz, ihr Anfang? Meine Augen sind geschlossen. Aber es ist hell. Die warmen Strahlen der Sonne berühren nicht nur meine Haut und schenken ihr die lebensspendenden Lichter, die der Körper zum Funktionieren braucht, sondern bohren sich auch sacht unter meine Augenlieder, ja lassen mich ihre Wärme sehen – oder ist es mein eigenes Blut in den Lidern?


Und weiter sehe ich unter geschlossenen Augen vereinzelte Punkte, goldene Flecken, die wie Schatten der Sonne daher huschen und dann verschwunden sind, bis wieder andere dazukommen. Und so versunken in dem Spiel der Sonne und meiner Sinne ersuche ich mich in Gedankenwelten, Traumwelten kommen hinzu und bald schon vermischen sich beide erst zu einem Wirbel, dann zu einem Brei, einer unförmigen Masse, einer Einheit zweier gegensätzlicher Partner, dessen in sich geschlossene Existenz erst durch den anderen vollkommen wird, dessen vollkommene Existenz erst durch den anderen geschlossen wird. 

 
Und es sind diese goldenen Punkte, die davon huschen und mich hinabziehen in die Wellen meiner Gedankenströme und mich hineinreißen in einen transzendenten Strudel und mich die Punkte meines Lebens erkennen lassen, nicht bloße Ereignisse, sondern Punkte, einzelne, die hinüber huschen, wie eben diese Sonnenschatten, klein und hell und unscheinbar und geschossen golden glänzend, gerade ergibt sich eine erste Silhouette, die mehr und mehr an Kontur gewinnt. Und plötzlich bildet sich diese Linie, aus einer Geburt und allen Geburten dieser Welt, die je waren und je seien werden und je weiter ich an dieser Geraden entlang gleite, ja, förmlich fliege, erkenne ich, dass sie kein Ende hat und keinen Anfang, oder bin nur ich unfähig ihn zu erkennen? Ist die Strecke einfach zu weit? Ich weiß es nicht. Aber es spielt auch keine Rolle. Denn auf einmal erkenne ich die Schönheit dieses goldenen Punktes, der gerade an mir vorbeizieht: In seiner Vollkommenheit vereint, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er ist das Hier und Jetzt und der einzige richtige und wahre Punkt, in dem ich seit jeher sein sollte.

Kann es sein, dass wir uns endlich gefunden haben?

 

 

 

 

 

 
 


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