Das Pulverfass brodelt weiter
01.03.2016 -Die Konflikte in Syrien und im Irak mit den gegenläufigen Interessen der Kriegsparteien weisen alle nötigen Zutaten für eine globale Eskalation auf. Vor allem gibt es zu viele Köche, die glauben, das richtige Rezept zu kennen. Irgendwo mitten im chaotischen Gemenge befindet sich auch Deutschland. Stehen wir an der Schwelle zum Weltkrieg?
Es gibt sie wieder: die “Koalition der Willigen” unter amerikanischer Führung, wie schon zu Zeiten des Dritten Golfkrieges im Irak. Nach US-Angaben werden sich schon bald über 60 Staaten auf unterschiedliche Weise in Syrien und im Irak intervenieren. Doch schon jetzt bröckelt die Anti-IS-Allianz.
Der kanadische Premier erklärte den Truppenabzug aus Syrien mit den Worten: „Die Menschen, die täglich vom IS terrorisiert werden, brauchen nicht unsere Rache. Sie brauchen unsere Hilfe“. Auch die von den Saudis ausgerufene Anti-Terror-Allianz von 34 Staaten zerfällt allmählich, denn mehrere Teilnehmerstaaten haben dem Königshaus eine deutliche Absage erteilt.
Aus Sicht der verbliebenen Staaten richtet sich die Mission offiziell gegen den IS-Terror. So einfach ist es dann aber doch nicht. Denn auf syrischem und irakischen Boden kreuzen sich die Interessen der Großmächte. Es sind vorallem die Rivalitäten zwischen den USA und Russland sowie dem Iran und Saudi-Arabien, die zu einem großen Hindernis im Kampf gegen des IS werden könnten.
Vor diesem Hintergrund stehen gegenseitige Provokationen in der umkämpften Region an der Tagesordnung. Mal erzürnt ein Raketentest der Iraner in der Straße von Hormus die Amerikaner, mal sind es die Saudis, die die Iraner mit der Hinrichtung eines einflussreichen schiitischen Gelehrten verärgern oder es sind die Türken, die einen russischen Kampfjet abschießen oder Russen, die Raketen auf eine türkische Schiffspassage richten. Sind dies Anzeichen für einen neuen (mehr oder weniger versehentlichen) Weltkrieg?
Laut Harvard-Professor Graham T. Allison sei diese Weltkriegsgefahr real und die Kriegspläne konkret. Neben Russland birge auch Chinas wirtschaftlicher Aufstieg ein großes Konfliktpotential, denn Veränderungen von Machtverhältnisse in dieser Größenordnungen seien in der Menschheitsgeschichte nie ohne Reibungen abgelaufen. Allison fand heraus, dass “11 von 15 solcher Fälle seit dem Jahre 1500 in einem Konflikt geendet haben.“
Gleichermaßen wolle Russland “den Anspruch auf den Status einer Großmacht signalisieren, das zeige “Putins Eingreifen sowohl innen- als auch außenpolitisch”, meint der Osteuropaexperte Dr. Andreas Umland. Statt sozioökonimischer Leistung für die eigenen Bürger liefere die Regierung ideell-psychologische Kompensation. “Eine Konfrontation selbst mit den USA ist nicht auszuschließen, da dies die Festungsmentalität in Russland stärken könnte.”, ist Umland überzeugt, der am Lehrstuhl für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt arbeitet.
In seinen Werken hinterfragt der Philosoph Richard David Precht immer wieder politische und gesellschaftliche Strukturen, auch die derzeitige weltpolitische Lage beobachtet er mit großer Besorgnis. Für ihn spielen die Rivalitäten der Großmächte bei den Konflikten unserer Zeit “leider eine viel zu große Rolle”. Da die USA durch den “arabischen Frühling” nicht das erhalten habe, was sie wollten, hätten sie beschlossen, Assad zu stürzen, um damit den letzten Verbündeten Russland im Nahen Osten zu beseitigen. Für besonders gefährlich hält er zudem eine weitere Zuspitzung des Konflikts zwischen dem Iran und Saudi-Arabien. “Wir wollten alles dagegen tun und uns hüten, dabei einseitig für das Regime in Riad Partei zu ergreifen.”, warnt er.
Auch der Historiker Prof. Michael Wolffsohn sieht den ursächlichen Konflikt zwischen der schiitische Vormacht des Iran und der sunnitischen Vormacht Saudi-Arabiens als ein wesentliches Problem. Der Iran wolle “die Ost- und Ölprovinz, wo Schiiten dominieren, zur Abspaltung” verhelfen.”, so Wolffsohn, kürzlich sein Buch “Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf” veröffentlicht hat. Er betont, dass die Religion vom Führungspersonal nur vorgeschoben sei. Stattdessen würden “konkurrierende machtpolitische, ethnische und wirtschaftliche Interessen den Streit” schüren.
Wer blickt in Syrien und im Irak angesichts der vielen Kriegsparteien noch durch? Der syrische Diktator Baschar al-Assad bekämpft die Aufständischen der Freien Syrischen Armee, der Islamischen Front, der al-Nusra Front (Al-Qaida) und die ISIS. Der “Islamische Staat” hat seinerseits einen Krieg gegen die ganze Welt ausgerufen, in der Hoffnung den angeblich prophezeiten Endzeitkampf zwischen Gut und Böse in der Stadt Dabiq zu provozieren. Ihre Kämpfer kommen aus aller Welt, ihre Gelder aus Lösegeld-, Erdöl- und Steuereinnahmen, ihre Waffen aus Nachbarstaaten und Unterstützung offenbar aus Saudi-Arabien, den Golfstaaten und indirekt durch die Türkei.
Die türkische Regierung bekämpft Assad, auch mithilfe syrischer Turkmenen, und ebenso die Kurden in Nordsyrien. Hierbei nutzt die Türkei den “Islamischen Staat” vermutlich als Rammbock gegen kurdische Kämpfer, die einen eigenen Staat anstreben. An der türkisch-syrischen Grenze wird scheinbar der tägliche Transport von neuen Dschihadisten und Waffen vorsätzlich übersehen. Die verfeindeten Kurden kämpfen wiederum gegen den “Islamischen Staat” und gegen Assad mit der Unterstützung der USA, von Großbritannien und Frankreich. Russland hilft Assad im Kampf gegen jeden Feind der syrischen Regierung und pflegt ein angespanntes Verhältnis zum Nato-Staat Türkei.
Nicht nur ohne die Türkei, sondern auch ohne Saudi-Arabien wäre der “Islamische Staat” nicht das, was er heute ist. Saudi-Arabien hat der Terrormiliz über eine lange Zeit hinweg massiv unter die Arme gegriffen, da das Königshaus alle sunnitische Gruppen in Syrien und im Irak unterstützte, um die Interessen des Erzfeinds Iran zurückzudrängen. Der Iran und die libanesische Terrororganisation “Hisbollah” sind am Machterhalt Assad interessiert. Auch im Irak soll die schiitisch-dominierte Regierung erhalten bleiben. Deshalb werden Syrien und Irak mit Geld, Waffen und Soldaten gestützt. So kämpft die “Hisbollah” an der Seite Assads gegen alle Rebellengruppen und koordniieren sogar Kampfeinsätze gegen irakische Sunnitenmilizen.
Der Mainzer Wirtschafts- und Sozialgeograph Prof. Günter Meyer hält die derzeitigen Luftschläge für sehr effektiv, weil der IS durch gezielte Angriffe auf Förderanlagen und Erdöltransporten seitens Russland, den USA und deren westlichen Verbündeten einen “schweren wirtschaftlichen Rückschlag” erlitten hat. Laut Meyer unterstreichen “die territorialen Verluste des IS in der Größenordnung von etwa 30%” den Nutzen des militärischen Vorgehens. Beispiele für die Erfolge seien die Rückeroberungen im Nordosten Syriens und der irakischen Stadt Ramadi, so der Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz.
Dem Publizisten Jürgen Todenhöfer zufolge hat sich der internationale Terrorismus durch eine ineffektive Militärstrategie des Westens in den letzten 15 Jahren fast vertausendfacht. Das oft als Erfolg verkaufte Beispiel von der Rückeroberung Ramadis hält er für eine Farce. In der Schlacht von Ramadi hätten “20.000 irakische Soldaten und Milizen mit US-Luftunterstützung gegen 2000 IS-Terroristen gekämpft”. Die Stadt sei nun zu 80 Prozent zerstört, aber über 90 Prozent der IS-Kämpfer konnten fliehen. “Diese Terroristen kämpfen jetzt im Umland und in anderen Städten. Das soll ein Erfolg sein?”, fragt er höhnisch. Todenhöfer beklagt das Vorgehen von Saudi-Arabien, Katar, der Türkei und des Westens, denn sie hätten sich beim Versuch, Assad zu stürzen, “total verzockt”. “Statt Assad zu stürzen, haben sie das Entstehen des IS begünstigt.”, resümiert der IS-Kenner.
Jürgen Manemann ist der Autor des Buches “Der Dschihad und der Nihilismus des Westens” und politischer Theologe. Manemann glaubt zwar, dass ohne die Anwendung militärischer Gewalt, die Massenmörder des IS nicht zu stoppen seien, aber man müsse bedenken: “Gewalt verändert auch diejenigen, die sie anwenden. Erreichen wir mit militärischer Gewalt nicht das Ziel, wird die Welt gewalttätiger werden.” Der IS begrüße jede militärische Intervention, weil dadurch nur noch mehr Hass gesät werden könne. Neben einer humanitären Flüchtlingspolitik, der Eindämmung ihrer gewaltverherrlichenden Propaganda und der Austrocknung ihrer Finanzquellen sieht er einen Einsatz westlicher Staaten “für bessere und sichere Lebensbedingungen in diesen Staaten” als unerlässlich. “Ein neuer Weltkrieg ist möglich, sobald die militärische Gewaltanwendung selbstläufig werden sollte. Dann kommt es zu einer Gewaltspirale, die nicht mehr kontrolliert werden kann.”, warnt er.
Schon seit Jahrzehnten beherbergt der Nahe Osten Freunde, Kollaborateure und Feinde, die allesamt von derselben Maxime geleitet sind: Der Freind meines Freindes ist mein Freind. Die Kriegsparteien legen sich auf dem Krankenbett mal auf die linke, mal auf die rechte Seite, im Glauben dann besser zu liegen. Getrieben von Angst vor einem Gesichtsverlust scheint keine Partei in diesem Muskelspiel nachgeben zu wollen.
So traurig es ist: Keiner der Akteure wird für die Wahrung eigener Interessen ohne Menschenrechtsverletzungen auskommen. Wir werden wieder Tote zählen, die im Rahmen westlicher Aktionen im Irak und Afghanistan noch "Kolleteralschäden" waren und nun werden sie "Opfer" genannt, weil sie russisch-iranischer Aktionen zum Opfer fallen.
Je tiefer man in die komplexen politischen Zusammenhänge und deren mögliche Auswirkungen eintaucht, desto mehr wird klar: Durch jede überzogene Aktion, jeden Fehler und jedes Missverständnis könnte militärische Gewaltanwendung selbstläufig werden und eine Gewaltspirale in Gang setzen, die nicht mehr zu kontrollieren ist. Und dann wären wir bei dem " bösen Wort", das viele nicht wagen, in den Mund zu nehmen: Weltkrieg.