Corona-Kakophonie
01.02.2022 -Über Weihnachten war ich wie jedes Jahr wieder daheim in Schleswig-Holstein. Es unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von meiner Wahlheimat London, wo ich nun seit mehreren Jahren lebe, aber dieses Mal kam ein weiterer Aspekt hinzu: Während ich in London kaum jemanden in meinem Freundes- und Kollegenkreis kenne, der noch nicht an Corona erkrankt ist, gilt zwischen Nord- und Ostsee das Gegenteil. So gut wie keiner meiner Freunde und Freundinnen in meiner Heimat hatte Covid-19 oder kannte jemanden direkt, der sich Sars-Cov-2 eingefangen hatte. Das dürfte sich aufgrund der Omikron-Variante mittlerweile geändert haben, aber zu jenem Zeitpunkt war Schleswig-Holstein eine Insel der Glückseligen, die von der Pandiemie insgesamt wenig direkt betroffen war.
Was mir dabei auffiel: Viele meiner Freunde und Bekannten hatten große Sorge, wenn nicht sogar Angst, sich mit Covid zu infizieren. Das mag natürlich daran gelegen haben, dass Weihnachten kurz vor der Tür stand und niemand den Rest seiner Familie anstecken oder die Festtage in Quarantäne verbringen wollte. Doch ungeachtet dessen drängte sich mir der generelle Eindruck auf, als würden viele einen positiven Covid-Test als Hiobsbotschaft interpretieren und sich dementsprechend freiwillig in ihrem sozialen Verhalten einschränken. Ich persönlich hingegen habe mit Corona mittlerweile weitestgehend abgeschlossen, weshalb sich mir die Frage stellt, wie es zu dieser sehr unterschiedlichen Wahrnehmung kommt.
Jeder wird sich mit Corona infizieren – besser man ist dann geimpft
Nichts läge mir ferner, als Sars-Cov-2 zu verharmlosen. Ich bin mittlerweile dreimal geimpft und finde, dass es sich geboostert deutlich unbeschwerter lebt. Mir fällt es schwer Verständnis für all jene aufzubringen, die sich standhaft weigern sich per Vakzin gegen Covid immunisieren zu lassen, oder seit Beginn der Pandemie so tun als sei Corona nicht der Rede wert. Und worauf ich auch gut verzichten kann, ist, dass meine auf die Siebzig zu gehenden Eltern sich mit diesem Virus anstecken. Andererseits bemühe ich mich, möglichst objektiv zu bleiben und sorgfältig Kosten und Nutzen abzuwägen, weshalb ich schon sehr erstaunt bin, wie das Pandemiegeschehen seit der Ankunft der Omikron-Variante in Deutschland im öffentlichen Diskurs kommentiert wird. Mein Eindruck ist nämlich, dass in vielen Köpfen ein mentales Modell der Pandemie abläuft, das vielleicht zur Deltavariante passt, aber der Omikron-Realität nicht gerecht wird. Dieses Modell wird medial transportiert, es beeinflusst die pandemischen Maßnahmen und meine Befürchtung ist, dass man in Deutschland an einem Punkt angekommen ist, wo man viele Menschen zu sehr verunsichert und verängstigt hat.
Für mich sieht die Sache so aus: Bereits im letzten Sommer prophezeiten „Mainstreamer“ wie der Virologe Christian Drosten oder der Gesundheitspolitiker (nun Gesundsheitsminister) Karl Lauterbach, dass sich früher oder später praktisch jeder mit Corona anstecken würde und das persönliche Schicksal dann unter anderem davon dann abhängt, ob man geimpft ist oder nicht. Mit anderen Worten: Über einen ausreichend langen Zeitraum kommt es zu einer Durchseuchung mit Sars-Cov-2 mit dem Endergebnis, dass das Virus irgendwann endemisch wird. Omikron hat diesen Prozess nun deutlich beschleunigt und führt dabei – Gott sei Dank – insgesamt zu deutlich milderen Verläufen, als es noch bei der Deltavariante der Fall war (wo ja selbst Geimpfte teilweise unter starken Symptomen litten). So zu tun, als sei „Durchseuchung“ etwas, das es um jeden Preis zu vermeiden gilt, ist daher Realitätsverleugnung. Allerdings scheint es, als hätte sich diese Erkenntnis noch nicht überall herumgesprochen.
Omikron ist anders
Ende Dezember war dies noch spekulativ, aber mittlerweile gilt für mich als gut gesichert, dass a) Omikron sich so gut wie gar nicht aufhalten, verlangsamen oder eindämmen lässt (es sei denn man entscheidet sich dazu einen harten Lockdown durchzuführen) und dass b) junge, gesunde, geimpfte Menschen eine Infektion mit dieser Variante in den meisten Fällen wie einen grippalen Effekt erleben. Das heißt nicht, dass Ungeimpfte, Ältere oder Risikogruppen ebenso glimpflich davon kommen. Und es heißt auch nicht, dass Corona damit nun endemisch ist. Aber wenn sich Covid-19 für viele wie eine Erkältung gepaart mit zwei Tagen Müdigkeit anfühlt, dann sollten pandemische Maßnahmen und die öffentliche Debatte darum meiner Meinung auch dem Rechnung tragen.
In Großbritannien ist dies längst erfolgt. Nicht dass ich viel Sympathien für Boris Johnson und seine Regierung hätte, aber sie hat immerhin mehrfach die Corona betreffenden Regelungen sinnvoll an neue Realitäten angepasst. Dazu gehörte bereits letztes Jahr das Aufheben der Quarantänepflicht für Geimpfte, wenn sie einen engen Kontakt mit einem Infizierten hatten (bei 30- bis 50-Tausend Fällen am Tag, wie es seit dem Sommer durchgehend der Fall im Vereinigten Königreich war, kommt man da auch nicht drum herum, es sei denn man möchte große Teile der Bevölkerung in permanente Selbstisolation zwingen). Zuletzt wurde die Quarantänezeit für positiv Getestete zweimal verkürzt.
Ein Diskurs, der die Realität verkennt
Und in Deutschland? Geht es einmal mehr hauptsächlich um Verschärfungen der Pandemiemaßnahmen. Es werden weiterhin auf jeder Nachrichtenseite geflissentlich Neuinfektionen und Inzidenz angezeigt, obwohl sich diese aufgrund von Omikron einmal mehr von Hospitalisierung und Todeszahlen entkoppelt haben. Dennoch ist die gute, alte 7-Tage-Inzidenz für viele anscheinend weiterhin das Maß der Dinge. So wird dann eben auch von einer „Corona-Hölle auf Sylt“ (Spiegel) berichtet, weil dort die Inzidenz aufgrund einer Feier auf 1.500 hochschoss. Dabei lag bzw. liegt sie in anderen europäischen Ländern landesweit noch deutlich höher, ohne dass es dort zum Armageddon gekommen wäre. Es wird auf 2G+ gesetzt, obwohl dies wahrscheinlich nichts an der Dynamik der Omikronwelle ändert. Der Gesundheitsminister spricht davon, Omikron zu besiegen, obwohl dies ohne Lockdown nicht zu schaffen ist. In den Onlinemedien lese ich häufig, dass Kinder nicht ausreichend geschützt würden. Aber mir scheint, dass der einzige wirkungsvolle Schutz gegen Omikron außer „Boostern“ (was das Infektions- und Krankheitsrisiko merklich senkt) konsequente Kontaktvermeidung ist, was im Falle von Kindern „Homeschooling“ bedeuten würde. Will das ernsthaft irgendjemand? Und davon einmal abgesehen: Ist es nicht so, dass Kinder Corona insgesamt sehr gut wegstecken, allerdings unter der Reduzierung von persönlichen Kontakten von allen am meisten leiden? Ich könnte noch soviel mehr auflisten – zum Beispiel, dass einige, die nun doch erfolgte Aufweichung von Quarantäneregeln oder die Maßgabe, Infizierte mögen bitte auf Eigeninitiative hin Kontakte über ihre Ansteckung informieren, als Kapitulation interpretieren, wohingegen ich sie angesichts Omikron für folgerichtig halte – aber das würde den Rahmen sprengen.
Meine Vermutung ist, dass diese teilweise widersprüchliche Corona-Kakophonie – erzeugt von Journalisten, Experten und Politikern, die Reaktionen auf und Maßnahmen gegen das Virus einfordern – Ausdruck des Verlangens ist, etwas zu kontrollieren, was sich partout nicht kontrollieren lässt. Auch geht es darum, zu zeigen, dass man als Politiker handelt, etwas „gegen dieses Virus tut“, und als Experte oder Journalist, der von der Seitenlinie aus kommentiert und analysiert, kommt man wahrscheinlich deutlich emphatischer und sympathischer rüber, wenn man ein solches Handeln einfordert und argumentiert, dass man ja etwas tun und mehr Menschen schützen könnte. Ich derweil bin zu dem Schluss gekommen, dass Omikron einfach zu ansteckend ist, als dass man abgesehen vom Impfen irgendetwas nennenswert dagegen unternehmen könnte (weshalb ich mir für Deutschland eine wesentlich höhere Impfquote wünschen würde). Und dort, wo man auf Menschen aus Risikogruppen treffen könnte, sollte man Masken tragen, um diese zu schützen; wer Oma und Opa am Wochenende besucht, sollte sich vorher am besten testen lassen.
Dieser Corona-Drops ist mit der Ankunft der Omikronwelle gelutscht. Doch wer geimpft, gesund und einigermaßen jung ist, sollte für sie gut gerüstet sein. Vielleicht ist es daher an der Zeit, ein wenig Optimismus zu verbreiten und all jene gesunde Geimpfte ermuntern ihr Leben zu leben, fast so, wie sie es 2019 getan haben. Aber der Staat sollte sie dann auch bitte ihr Leben leben lassen.