Ayshe und das Tuch
01.10.2014 -Jeder von uns kennt eine Ayshe. Sie ging mit uns auf die Grundschule, sie besuchte die weiterführende Schule, sie studierte mit uns. Sie lachte mit uns, sie weinte mit uns. Sie stritt mit uns, sie spielte mit uns. Manchmal gehörte sie zu uns und manchmal halt zu den anderen. Sie ist in Deutschland geboren und bis auf ihre schwarzen Haare und braunen Augen kaum von uns zu unterscheiden. In der Grundschule haben wir sie schon manchmal aufgrund ihres Andersseins gehänselt. Aber eigentlich verstanden wir uns schon gut mit ihr. Sie ist eine von uns. Nur etwas anders. Eigentlich haben wir uns schon so an Ayshe gewöhnt, dass sie uns nicht mehr so anders erscheint. Aber dennoch mussten wir schon manchmal feststellen, dass sie anders ist.
Am 11. September 2001 war Ayshe in der achten Klasse und wir regten uns über den Anschlag auf die Türme des World Trade Centers auf: „Du bist doch nicht eine von denen oder?“, fragten wir sie, als wir sie am nächsten Tag in der Schule trafen. Sie schaute schockiert zurück und fragte: „Von wem? Also ich bin Muslimin aber eine von denen bin ich nicht. Ihr kennt mich doch!?“ Den Rest des Tages verbrachte sie damit, uns zu erklären, dass sie nichts mit den Anschlägen zu tun hätte und dass sie es falsch ansehe, was passiert war. Eigentlich tut sie es bis heute noch. Wir glauben ihr ja auch. Nur manchmal halt nicht... Seitdem interessierten wir uns auf jeden Fall mehr für Ayshes Religion. Irgendwie tat sie uns leid. Ständig beten, keusch sein, als Frau sogar weniger zu sagen haben und Kopftuch tragen müssen. Schrecklich. Auch wenn Ayshe damals noch kein Kopftuch trug, beteuerte sie, dass es nicht so sei, wie wir dachten.
Irgendwann fing Ayshe aber an, ein Kopftuch zu tragen. Ayshe sagte, sie fühle sich besser damit und es sei Teil ihrer Religiosität. Wir tolerierten - nein - wir akzeptierten es. Aber dann kam das Kopftuchverbot, weil eine andere Ayshe Lehramt studiert hatte und nach ihrem Referendariat als Lehrerin arbeiten wollte. Die Politiker und Medien belehrten uns darüber, dass es ein frauenfeindliches Symbol sei, das die Frau unterdrücken wolle. Plötzlich hatten doch alle Ayshes etwas mit dem 11. September zu tun. Sie trugen das Kopftuch, weil sie von den bösen Muslimen gezwungen wurden oder aber weil sie mit ihnen freiwillig mitmachten. Sie wollen unser Land erobern und nach ihren Vorstellungen regieren. Das wurde uns erzählt. Wir hatten aber unsere Ayshe, die wir dann fragten. Sie sagte wieder, dass das nicht stimme. Sie trage das Kopftuch freiwillig und keiner hätte sie dazu gezwungen. Sie sehe es als Teil ihrer Religiosität, aber verbinde es nicht mit Gewalt. Sie musste immer wieder beteuern, dass sie ein friedlicher Mensch sei, dass sie uns alle nicht als Ungläubige sehe und dass sie uns nicht allesamt den Tod wünscht. Dann glaubten wir ihr wieder.
Ab und zu konnten wir Ayshe aber dennoch nicht glauben. Als Erdkundelehrer der achten Klasse erklärten wir ihr, dass sie laut Koran geschlagen werden dürfe und wiesen sie zurecht, dass sie als muslimisches Mädchen das Kopftuch zu tragen hätte. Als Konrektor in der Oberstufe, als sie das Kopftuch anlegte, fragten wir sie einmal grinsend: „Sie sehen das also nicht so eng mit dem Kopftuchzwang?“ Als Lehrerin des Französisch-Leistungskurses behandelten wir das Buch „Les raisins de la galère“ und sprachen über die bösen muslimischen Männer. Plötzlich fiel uns Ayshe wieder auf, die mit ihrem Kopftuch unter uns saß. „Wer hat dich denn dazu gezwungen?“, fragten wir sie als Lehrerin einfach mal direkt im Kurs. Vor allen anderen. Sie schaute mal wieder entsetzt und antwortete: „Niemand!“ Ungläubig wiederholten wir ihre Antwort: „Ach was! Niemand?“ Einmal hatten wir so eine Wut auf sie, dass wir sie als Deutschlehrer beim Austeilen der Klausur anschrien: „Was glotzen Sie so wie eine 89-jährige Kopftuch-Omi??!!“ Wir rieten ihr als Freunde auch oft genug, „das Ding“ wieder runterzunehmen. Wir meinten es gut. Aber Ayshe wollte es nicht.
In der Uni sprachen wir mehr mit Ayshe und versuchten, ihre Gründe für das Tragen eines Kopftuchs nachzuvollziehen und ihre Ansicht der Dinge zu verstehen. Wir lernten, dass Ayshe eigentlich gar nicht unterdrückt ist, sondern sich ausgiebig mit ihrer Religion auseinander gesetzt hat. Das Kopftuch sieht Ayshe als Teil ihres persönlichen Glaubens und verbindet es weder mit politischen Motiven noch mit der angeblich unterlegenen Rolle der Frau. Sie sieht sogar Mann und Frau als gleichwertig an und studiert, um nachher selbstbestimmt einem Job nachgehen zu können. Sie nannte uns zahlreiche Koranstellen und Überlieferungen, die zeigten, dass das allgemein bekannte Bild des Islams nicht der Wahrheit entsprach. Ayshe wies aber auch darauf hin, dass einige Muslime sich falsch verhalten, was aber nicht mit dem Islam zu verbinden sei. Ayshe klang logisch und wir glaubten ihr. Sie sah ja auch nicht unterdrückt aus, sondern eher sehr selbstbewusst und selbstbestimmt.
Aber nur weil wir es in der Uni verstanden haben, heißt es ja nicht, dass wir es jetzt überall gleich verstehen. Was will Ayshe eigentlich nach ihrem Studium machen? Wenn sie Lehramt studiert, darf sie später eh nicht mit Kopftuch arbeiten. Zumindest nicht an staatlichen Schulen. Wenn sie Jura studiert, darf sie auch nicht mit Kopftuch arbeiten. Und neuerdings dürfen auch andere Institutionen, zum Beispiel kirchliche Krankenhäuser, Ayshe den Beruf mit Kopftuch verwehren. Sie sei nicht neutral, stehe für Islamismus und wäre ein schlechtes Vorbild für die SchülerInnen. Sie sei so unterdrückt, dass sie es nicht merke, dass sie unterdrückt sei. Vor lauter Unterdrückung werde sie gezielt in solche Berufe geschickt, um islamistische Ideologien durchzusetzen. Es kann nur zwei Möglichkeiten geben: Entweder macht sie es gezwungenermaßen oder sogar freiwillig. Letzteres ist uns noch unheimlicher. So lauten unsere schweren Vorwürfe an Ayshe. Und wieder muss Ayshe sich rechtfertigen, aber diesmal bringt es ihr leider nichts. Es ist beschlossen und festgelegt. Ayshes sind willkommen, aber nur ohne Kopftuch. Wir glauben, dass wir dadurch Ayshe zur Freiheit zwingen können, weil wir wissen, wie Freiheit definiert wird und sie nicht. Sie muss das noch lernen. Etwas zurück geblieben ist Ayshe da. Da muss man natürlich nachhelfen. So glauben wir. Ayshe wiederum findet das beleidigend und ist empört. Sie habe doch schon so oft erklärt, was sie denke.
Während des Studiums muss Ayshe ein Praktikum machen. Sie geht an eine Grundschule, um dort für ihre Fallstudie zu forschen. Der Email-Verkehr mit der Schule verläuft reibungslos. Als Ayshe aber am ersten Tag an der Schule ankommt, schauen wir sie als betreuende Lehrerin zunächst stutzig an. Dann sagen wir zwar nichts, aber lassen sie zunächst unbegrüßt draußen stehen. Ayshe wartet vor der Tür. Dann schicken wir alle Kinder in die Pause und holen Ayshe rein. Unser Gesichtsausdruck ist gestresst und ernst. Wir bitten Ayshe darum, sich zu setzen. Und setzen uns daneben. Dann fangen wir vorsichtig an zu reden. Unser Gesicht wird langsam rot. „Also...“, fangen wir an. „Wenn ich gewusst hätte, dass Sie Kopftuch tragen, hätte ich Ihnen bereits per Email mitgeteilt, dass das bei uns nicht geht. Wir haben das an unserer Schule so als Regel festgelegt. Es tut mir Leid, dass Sie sich den weiten Weg hier hin gemacht haben.“ Während wir das sagen, schauen wir Ayshe nicht ins Gesicht. Wir starren auf ihre Hände und unsere Stimme zittert dabei. Wir haben fast Tränen in den Augen. Wir hoffen, dass sie jetzt einfach geht. Vielleicht ist es uns auch peinlich. Als Ayshe uns erwidert, dass sie es demütigend findet und auch ungerecht, wagen wir es kurz in ihr Gesicht zu schauen. Sie schaut verletzt und ist ebenso den Tränen nahe wie wir. Wir schauen schnell wieder weg. Ayshe sagt weiter, dass es für sie keine Lösung ist, wenn sie von uns einfach abgewiesen wird. Alle anderen Schulen täten es genauso. Das Praktikum ist Pflichtteil ihres Studiums. Wollen wir etwa, dass sie aufhört zu studieren? Eine Antwort haben wir darauf nicht. Wir merken, dass es uns wesentlich einfacher fällt, über eine Ayshe zu reden, ihr das Recht, ein Kopftuch zu tragen abzusprechen. Aber einer Ayshe gegenüber zu sitzen und es ihr ins Gesicht zu sagen - das erfordert Mut und geht an unsere menschlichen Grenzen. Wir möchten lieber nicht wissen, was Ayshe dann wohl gerade fühlt. Wir schaffen es aber trotzdem, sie dazu zu bringen, es während des Praktikums abzulegen. Eine andere Wahl lassen wir ihr einfach nicht.
Wenn Ayshe ihr Studium durchgezogen hat, kann sie eventuell als Ausnahmefall das Kopftuch während des Referendariats weiterhin tragen. Spätestens danach haben wir es geschafft, Ayshe loszuwerden. Sie wird nicht mehr unter uns arbeiten können. Natürlich liegt das nicht an uns, sondern an Ayshe. Wir haben ihr doch die Wahl gelassen: Entweder Religion oder Beruf. Beides geht nun mal nicht. Oder? Nein, nein, geht nicht. Wirklich nicht? So sagt es schließlich unser demokratisches Gesetz, also wird es schon stimmen. Aber ist Ayshe nicht Teil unserer Demokratie? Ist es nicht Aufgabe des demokratischen Staates, auf legitime Interessen aller Bürger einzugehen und alle gleich zu behandeln? Aber wer bestimmt dann, was legitim ist und was nicht? Ist zu kompliziert. Wird schon alles seine Richtigkeit haben denken wir uns. Wir sind ja nicht Ayshe, also was kümmert es uns.
Wer wir sind? Wir sind halt wir. Die Mehrheitsgesellschaft. Wer Ayshe ist? Sie kennt doch wirklich jeder von uns. Wir generalisieren natürlich gar nicht. Zumindest nicht was Ayshe angeht. Wie Ayshe über uns denkt? Sie sagt, wir sind offen, tolerant und dass sie es liebt Teil von uns zu sein. Was wir über Ayshe denken? Sie trägt Kopftuch und ist arbeitsunfähig, sei es als Lehrerin, Juristin oder Krankenschwester. Sie ist am besten Hausfrau und von patriarchalen Strukturen unterdrückt. Teil von uns könnte sie sein, aber sie will ja nicht. Wir sind ja offen, wenn sie ihr Kopftuch ablegt. Sie hat die Wahl: Ohne Kopftuch akzeptiert oder mit Kopftuch abgelehnt. An ihr allein liegt es. Nicht an uns. Nein.
PS: Diese Pauschalisierung stört uns? Ayshe stört sie auch. Sie lässt uns dennoch herzlich grüßen.
Foto: © Héctor