Aus der Chefredaktion: Das ist mein letzter Brief!
15.06.2019 -Liebe Leserinnen und Leser,
Liebe Autorinnen und Autoren,
2015. Es ist ein eiskalter Dezembernachmittag auf dem Potsdamer Platz in Berlin. Ein kleinwüchsiger Mann in verwaschenen Jeans und Kapuzenpulli nähert sich mir, fragt in gebrochenem Italo-Englisch nach dem Weg zum Hotel Adlon und ich beschreibe ihn. Dann fragt er, woher ich stamme. „India“, antworte ich knapp. “Ah, Bollywood, Shah Rukh Khan, Kuch Kuch Hota Hai!“, ruft er mir freudig zu. Ich lache. Plötzlich legt er seinen Arm auf meine Schulter und stupst meine Wade in gleichmäßigem Takt mit den Zehnspitzen seines rechten Fußes an. Er tanzt, aber warum tritt er mich? Ich bin verwirrt. Ich schaue dem Mann ins Gesicht: er schwitzt und atmet schwer. Irgendwas passiert gerade, nur was? Meine Aufmerksamkeit lenke ich nun weg von den Tritten hin zu den anderen Berührungen am Körper. Ich spüre. Die Uhr löst sich langsam vom Handgelenk und meine rechte Jackentasche wird leichter. Sofort greife ich fest nach meiner Uhr und dem Portemonnaie und schubse den Mann weg, der mit seinen Komplizen davonrennt.
Erst einige Stunden später verstand ich, was geschehen war. Ich traf einen Freund. Er erklärte mir den „Antanz-Trick“, der anscheinend in Berlin keine Neuheit war. Einmal habe man seinen Mitschüler auf diese Weise ausgeraubt. Immer derselbe Ablauf: Der Täter täuscht seinem Gegenüber große Freude über die Begegnung vor, bittet ihn zum Tanz und nutzt den Moment der Ablenkung, um Wertgegenstände zu entwenden. Er fragte mich, warum der Trickdiebstahl bei mir nicht geklappt hatte. Ich erzählte ihm, dass ich mich viele Jahre neben meinem Studium aus privatem Interesse mit dem menschlichen Bewusstsein und der Wahrnehmung beschäftigt hatte. Ich hatte gelernt: ein Betrüger beherrscht zwar seinen Trick, aber nicht unbedingt seine Körpersprache. Ein Lügner weiß, was er sagt, aber kann nicht immer kontrollieren, wie er etwas sagt. Die Lüge scheitert am Denken und Fühlen des Lügners. Denn ohne Widersprüche kommt sie nicht aus. Irgendetwas passt nicht zum entworfenen Gesamtbild. Als der tanzende Dieb zur Tat schritt, waren mir zwei Dinge aufgefallen: Der Dieb trat beim Tanzen unsinnigerweise gegen meine Wade, er schwitzte bei Minustemperaturen und atmete schwer. Um dies zu erkennen musste ich damit angefangen, meinen Aufmerksamkeitsradar selbst zu steuern. Ich sah, hörte und fühlte.
Im Normalfall registrieren wir nur einen Bruchteil dessen, was um uns herum geschieht. Doyles Sherlock Holmes nannte das „schauen ohne zu sehen“. Diese Schwäche öffnet Tür und Tor für Manipulation und Täuschung. Die tägliche Fernsehwerbung, der Supermarkt um die Ecke oder der Kundenberater unseres Vertrauens nutzen sie gezielt aus. Der erste Schritt, um sich davor zu schützen, kann nur sein, sich bewusst zu machen, dass es die Täuschung gibt. Indem wir uns ein stärkeres Misstrauen antrainieren, stellen wir sicher, dass wir das, was wir wahrnehmen, lesen und anschauen, kontrollieren können und nicht selbst kontrolliert werden. Zusätzlich dazu müssen wir uns die Kompetenz aneignen, Informationen bewusster wahrzunehmen und sie zu verarbeiten. Auch geht es darum, sie gegenzuprüfen und gegebenenfalls Informationsquellen zu recherchieren.
Die Energie liegt in der Aufmerksamkeit. Wir können Gedanken eine Richtung vorgeben. Ein Beispiel: Wir setzen uns mit einem Auto auseinander, weil es uns interessiert. Und plötzlich ist sie für uns omnipräsent. Wir sehen Autos dieser einen bestimmten Automarke, mit dieser einen bestimmten Autofarbe oder diesem einen KFZ-Kennzeichen öfter herumfahren. Dieser natürliche Mechanismus kann auch produktiv genutzt werden. Wir werden feststellen: Alles worauf wir uns gedanklich konzentrieren, davon nehmen wir automatisch mehr wahr. Das reicht natürlich nicht, um das Wahrgenommene richtig einzuordnen. Wenn Sie in einer unbekannten Stadt sind, dann können Sie versuchen, Ihre Umgebung noch so bewusst wahrzunehmen und Vergleiche zu Erfahrungen in anderen Städten anzustellen, es wird Ihrer Orientierung nichts bringen. Sie benötigen einen Stadtplan oder einen Wegweiser. Ohne konkrete Anhaltspunkte herrscht Unsicherheit, die Sie auf Irrwege führen wird.
Mit diesen Worten möchte ich mich heute aus der Chefredaktion verabschieden. Gleichwohl ich der Redaktion als Impuls- und Ideengeber erhalten bleibe, wird sich mein Fokus auf meine neue Arbeitsstelle richten, die ich ab Anfang Juli antreten werde. Meine großartige Frau, Alia Hübsch-Chaudhry, trägt von nun wieder an die alleinige Verantwortung. Ich bedanke mich von Herzen für euer großes Interesse für dieses Magazin, das 2013 in meinen Händen als kleine Idee aufkeimte und zu etwas heranwuchs, was sich heute für viele zu einem unverzichtbaren Medium innerhalb der alternativen Medienlandschaft in Deutschland entwickelt hat. Lest es, bewirbt es und vor allem: unterstützt es!. Ich danke euch vielmals.
Beste Grüße,
Tahir Chaudhry
Chefredakteur