Aus den Augen, aus dem Sinn
01.10.2013 -Skandalös: im August kursierte die Schlagzeile über einen Arzt aus Göttingen, der etliche Menschen um ihre Warteplätze für eine Organspende betrogen hat! Was motiviert einen Arzt zu so einer Untat?
Korruption im Gesundheitswesen
Im vergangenen Monat fuhr ich an einem Morgen völlig sorglos und voller Freude über meinen freien Semesterferientag zum Einkaufen, weil ich es mir fest vorgenommen habe, mir ein gemütliches Frühstück zu machen. Während der Autofahrt hörte ich mir die aktuellen Nachrichten im Radio an, als plötzlich die Meldung über einen Göttinger Arzt gesendet wurde, dem mehrere Organspendenaffären vorgeworfen wurden. Es hieß, der Mann habe unentgeltlich dafür gesorgt, dass einige seiner Patienten, die auf eine adäquate Organspende warten mussten, auf der entsprechenden Warteliste aufrückten, um so früher den lebensrettenden Maßnahmen unterzogen werden zu können. Verständlicherweise hob der Nachrichtensprecher dabei die Verantwortungslosigkeit der kriminellen Tat hervor und betonte den Nachteil für diebis dahin auf die Spenderorgane wartenden Patienten.
Es besteht wenig Zweifel daran, dass dem Ereignis ein Korruptionsdelikt vorangegangen sein muss, da es äußerst schwierig ist, Einfluss auf die Wartelisten zu nehmen.
Für die Glaubwürdigkeit der rechtlichen Sicherheit von Patienten, die auf Organspenden angewiesen sind, und des hier relevanten Zweigs des medizinischen Versorgungssystems ist der Vorfall niederschmetternd und äußerst beunruhigend.
Ritterlicher Rechtsverstoß
Nach eigener Aussage gab der betreffende Arzt zu verstehen, dass er lediglich versuchte schnellstmöglich Menschenleben zu retten, ohne seine Patienten dem üblichen Warteprozedere zu überlassen. Tatsächlich konnte keine Bestechlichkeit des Mannes nachgewiesen werden so dass sich die Frage nach dem Handlungsmotiv stellt. Neben Korruption gäbe es den Vorwurf der Bösartigkeit, doch Fakt ist, der Betroffene hat seinen Patienten das Leben mit seinem Vorgehen gerettet. Ist das etwa die Vorgehensweise eines passionierten Mörders? Als Arzt habe er sich seinen Patienten gegenüber verantwortlich gefühlt und sah sich dazu gezwungen, alles zu unternehmen, um ihnen zu helfen.
Aus den Augen, aus dem Sinn
Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass der Mann als Arzt ebenfalls dem hippokratischer Eid gegenüber verpflichtet ist. Seine Verantwortung erstreckt sich somit nicht nur auf seine Patienten, sondern auch auf diejenigen, die aus verschiedenen Umständen anderweitig versorgt und behandelt werden; zu den Letzteren zählen ebenso die, die um ihre Warteplätze betrogen wurden. Wie ist also die Tat insgesamt zu werten? Warum berücksichtigte er nicht ebenso das Wohl derjenigen, die unter Umständen auch seine Patienten hätten sein können? Die Antwort ist möglicherweise ganz einfach: sie waren es nicht! Er kannte sie nicht, sie standen zu keiner Zeit leibhaftig ihnen gegenüber und es baute sich kein emotionaler Bezug zu ihnen auf, wie es bei seinen eigenen Patienten der Fall war. Es kann folglich weder die Rede von Korruption, noch von Ignoranz sein. Sie waren lediglich eine statistische Zahl, die ihn von jeglichem Verantwortungsbewusstsein ihnen gegenüber abhielt. Es ist ein Verhaltensmuster, das so unverzeihlich wie menschlich ist, getreu der Devise „aus den Augen, aus dem Sinn“.
Was ist mit uns?
In aller Selbstgefälligkeit kommentierte ich die „Abscheulichkeit“ des zugrunde liegenden Falles und erreichte schließlich den Supermarktparkplatz. Ich stolzierte in den Laden, sammelte meine Einkäufe und warf noch einen Blick auf den Einkaufszettel, um mich zu vergewissern, dass ich alles besorgt habe. Spontan beschloss ich, mir den Tag mit einer zusätzlichen Kleinigkeit zu versüßen und ging zum Schokoladenregal. Um an dieser Stelle keine Schleichwerbung anzuzetteln: mir schoss sofort das Bild eines exzentrisch gefärbten Wiederkäuers auf der Verpackungsfolie ins Auge. Bevor ich aber nach der Tafel greifen konnte, bemerkte ich eine gleichartige Schokolade von Fair-Trade. Trotz des Bewusstseins, dass Fair-Trade für bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen der Kakaobauern steht, entschied ich mich für den preiswerteren Wiederkäuer.
Als ich an der Kasse stand, überkam mich das Gefühl, dass meine Entscheidung gewisse Parallelen zur Tat des Göttinger Arztes aufweist. Ich habe in diesem Sinne zwar niemandem direkt Schaden zugefügt, habe aber durch meinen Konsum etwas nicht unterstützt, was fairere Arbeits- und Lebensbedingungen verspricht. Wie ein guter Durchschnittsbürger entschied ich mich für die preiswertere Variante. Ich versuchte mich sogar damit zu trösten, dass den Aufpreis beim teureren Produkt möglicherweise doch der Zwischenhandel einstreicht . Doch im Bewusstsein schwebte mir vor, dass das Fair-Trade-Produkt sicherlich schon das hält, was es verspricht. Damit war mein Selbsttrost nur schwach.
Die Schicksale der Menschen, die man hier möglicherweise nicht unterstützt hat, sind viel zu weit weg von einem selbst. Dramatischer sind hier die Konsequenzen beim unbedachten Textilkonsum. Um stets saison- und modegerecht gemäß dem Motto tres-chic aufzutreten, ist man um Spitzenqualität und Topästhetik bei Jacken, Hosen, Schuhen oder was auch immer sehr bemüht. Preiswert soll der Artikel auch noch sein. Dieses Ziel hat seinen Preis am anderen Ende: Kinderarbeit in indischen Textilfabriken sind weitestgehend bekannt und können wohl kaum von Modehäusern abgestritten werden. Der Einzige große Unterschied zwischen den Kleidungsstücken ist u.U. die Qualität, bestimmt aber das Firmenlogo.
Im Grunde genommen müsste auch jeder verstanden haben, dass der Erwerb von Diamanten zu Schmuckzwecken unmittelbar die Rekrutierung von Kindersoldaten in Afrika fördert. Und dennoch scheint die Traumfabrik der Schmuckindustrie nicht zu bändigen zu sein. Sowohl bei Mode als auch bei Schmuck sind die Schicksale am Anfang der Handelskette dem Endkonsumenten viel zu fern, eben nicht vor Augen.
Mut zur Besinnung
Sicherlich hat der Göttinger Arzt gegen geltendes Recht verstoßen und wird sich dafür verantworten müssen. Es wäre im Sinne der Gerechtigkeit, dass hier ein adäquates Urteil gefällt wird. Die Tat ist absolut verwerflich, zumal sie von einem vereidigten Arzt begangen wurde. Doch spricht man von Verurteilungen im Rahmen der Gesellschaft, so erinnere ich gerne an die o.a. Beispiele aus dem Lebensmittel- und Modekonsum, bei denen es ausschließlich um die Zufriedenstellung des eigenen Bedarfs geht und nicht um die Rettung irgendeines Lebens. Unser allgemeines Konsumverhalten dient nicht nur zum Decken des Grundbedarfs sondern hat auch dekadente Züge. Ist Letzteres nicht verwerflich? Und manchmal beabsichtigen wir , mit unserem Konsumverhalten anderen Menschen eine Freude zu bereiten. Dieselbe Art von Freude empfand womöglich auch der betroffene Arzt, als er seinen Patienten half. Ist das Verhalten tatsächlich entschieden anders? Ohne an dieser Stelle den Moralapostel spielen oder den Zeigefinger erheben zu wollen: Werden wir für unsere Taten nicht belangt, weil wir den „richtigen“ Menschen schaden?
Foto ©: Kristopher Radder