Antimuslimischer Rassismus nimmt zu
01.09.2022 -1402 Einzelfälle – Antimuslimischer Rassismus prägt den Alltag Tausender Betroffener, ob in der Schule, auf der Straße oder im Netz.
Reges Treiben herrscht am Bahnhof Wien Mitte, als Nada hinter ihrer jüngeren Schwester auf die Rolltreppe steigt. Der Abend neigt sich dem Ende zu, verläuft eigentlich ziemlich unspektakulär. Ihre Gedanken werden kurz unterbrochen. Jemand räuspert sich lautstark. Ein solches Geräusch gehört nun mal zur Kulisse einer Großstadt, also ignoriert sie es. Dann hört sie jemanden spucken. Am Bahnhof. Das wiederum ist durchaus irritierend. Sie blickt verwundert, angewidert, und sieht ihn am Fuß der Rolltreppe. Er fixiert sie mit seinem Blick, seine Hand hebt sich zum Hitlergruß. Nada versteht, was geschehen war.
„Ich kann mich an kein Jahr erinnern, in dem ich nicht mindestens einmal eine negative Erfahrung gemacht habe“, erzählt Nada. Immer passiert es in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Immer sind es Männer, die sie angreifen. Sie ist Akademikerin, Ehefrau, Mutter, Schwester und Freundin. Trotzdem wird sie auf ein einziges äußerliches Merkmal reduziert: ihr Kopftuch. Einmal wird Nada in der U-Bahn von einem jungen Mann getreten. Eine Sekunde später ist er schon ausgestiegen, ruft ihr noch „Scheißkopftuch“ zu. Ein anderes Mal zieht jemand im Bus von hinten an ihrem Tuch, will es ihr vom Kopf reißen. Das sind nur zwei Beispiele. Nadas Erfahrungen sind keine außergewöhnlichen Ereignisse, auch wenn es im öffentlichen Diskurs so dargestellt wird. „Wenn wir diese Erfahrungen als Einzelfälle abtun, entziehen wir uns der Verantwortung. Rassismus ist kein isoliertes Phänomen. Es geht darum, anzuerkennen, dass wir in rassistischen Strukturen leben, in denen Täter:innen sozialisiert und bestimmte Personengruppen angegriffen werden“, erklärt Ümmü-Selime Türe. Sie ist Vorstandsmitglied der Dokustelle Österreich, die seit Jahren Islamfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus dokumentiert. 2020 waren es 1.402 Fälle, um ein Drittel mehr als im Jahr davor. Der Großteil davon wurde von Betroffenen gemeldet, den Rest hat die Dokustelle beim laufenden Medienmonitoring dokumentiert. Die Dunkelziffer ist jedoch höher.
Während Männer überwiegend von Angriffen im Netz berichten, sind im echten Leben deutlich mehr Frauen betroffen. Es ist eine Verzahnung von Rassismus und Sexismus, die Musliminnen auf zweifache Weise in die Schusslinie rückt: „Rassismus muss man immer auch intersektional betrachten. Frauen werden als das schwächere Geschlecht gesehen, erscheinen als das leichtere Angriffsziel. Das macht muslimische Frauen allein aufgrund ihrer Identität zweifach vulnerabel“, erklärt Türe. Sie engagiert sich ehrenamtlich bei der Dokustelle. „Natürlich ist es kein angenehmes Gefühl, über Jahre hinweg solche Fälle zu verzeichnen. Man fühlt sich oft ohnmächtig, wenn man Rassismus erfährt. Deshalb wirkt diese Arbeit für mich ermächtigend. Früher war ich unsichtbar. Heute werde ich laut. Ich habe keine Toleranz mehr für Ungerechtigkeiten.“
Nada kocht vor Wut. „Du widerliches Schwein“, schreit sie ihn an. Ihre jüngere Schwester verzieht die Lippen, Nada sieht den Ekel in ihrem Blick. Hinten auf Nadas Jacke klebt ein gelblich-schleimiger Film, den ihre Schwester wegwischt. Nada stürmt auf ihn zu, um ihn zu konfrontieren. Was genau sie antreibt, kann sie nicht erklären. Eine Kombination aus Frustration und Abscheu. Ihre Schwester ruft ihr nach, will sie aufhalten, doch Nada folgt ihm auf die Straße. „Wohin gehst du? Komm zurück!“, schreit sie den Spucker an. Ein junger Mann spricht sie an, tröstet sie. Er habe alles gesehen, sagt er, und ein Foto von dem Mann geschossen, für die Polizei. Ihre Schwester zieht an ihrem Arm, „Bitte, lass uns einfach gehen!“ Nada wählt 133. Der junge Mann neben ihr hält plötzlich inne. „Hey, hey! Pass auf, hey!“ Seine Stimme klingt panisch.
Das Alarmierende an Rassismus ist seine Omnipräsenz: Er zeigt sich an Orten, die unvermeidbar mit dem täglichen Leben verwoben sind. Nada erlebt ihn am häufigsten im öffentlichen Verkehr, andere Betroffene erzählen von Vorfällen im Supermarkt oder sogar vor der eigenen Haustür. Besonders in der Anonymität des Internets verliert Rassismus jeden Deckmantel, er wird unbeschönigt zur Schau gestellt, menschenverachtend und rücksichtslos, dort findet er Gleichgesinnte. Auch an der eigenen Arbeitsstelle oder an Schulen und Universitäten trifft man auf Rassismus. Ihm zu entgehen, würde für Betroffene heißen, sich vollständig vom gesellschaftlichen Leben zu isolieren. Deshalb ist es laut Türe wichtig, nicht nur auf die steigenden Zahlen aufmerksam zu machen, sondern auch zu analysieren, welche gesellschaftlichen und strukturellen Faktoren diesen Anstieg befeuern.
Sie dreht sich um. Sieht, wie er auf sie zuläuft, sie anschreit, sie mit seinem Blick durchbohrt. Sein Gesicht ist verzerrt vor Wut. Nada erstarrt. Er kommt näher. Ihre Schwester schreit. Versucht sie wegzuziehen. Läuft los. Nada steht immer noch still. Will weggehen, kann es nicht. Was hat er vor? Gleich ist er bei ihr. Sie sieht etwas Spitzes in seiner Hand aufblitzen. Der junge Mann geht dazwischen, seine Handykamera ist auf den Mann gerichtet. Hält er ein Messer? Nada rennt endlich los.
„Der Anstieg der Fälle hat viele Ursachen. Unter anderem auch den Anschlag in Wien und die darauffolgenden politischen Entscheidungen, die noch mehr zu einer Stigmatisierung von Muslim:innen geführt haben“, sagt Dilber Dikme, Leiterin der Beratungsstellen des Vereins ZARA – Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit. Maßnahmen wie die gegen angebliche Muslimbrüder gerichtete „Operation Luxor“ oder das Einrichten einer „Dokumentationsstelle Politischer Islam“ tragen laut Dikme zu einer Marginalisierung bei. Dikme sieht den Anstieg von antimuslimischem Rassismus auch in der Corona-Krise begründet. „Es ist ein Jahr der Unsicherheiten und Ängste, der Arbeitslosigkeit und der medizinischen Engpässe gewesen. In solchen Krisen wird Rassismus besonders sichtbar“, sagt sie. Dikme verweist auf Medien, die bewusst das Thema Pandemie mit Bildern kopftuchtragender Frauen verknüpften oder Migrant:innen höhere Infektionszahlen zuordnen und dabei vollkommen ausblenden, dass Menschen mit Migrationshintergrund überproportional in „systemrelevanten“ Branchen wie in der Logistik und der Pflege arbeiten. Politische und mediale Narrative wie diese treiben marginalisierte Gruppen noch stärker an den Rand der Gesellschaft. Die Verantwortung, gegen Rassismus vorzugehen, sieht Ümmü-Selime Türe bei jedem Einzelnen: „Es braucht eine gesamt- gesellschaftliche Sensibilisierung, um strukturellen Rassismus zu verstehen und das Problem an der Wurzel zu packen.“
Dilber Dikme sieht das ähnlich: „Rassismus wird sehr gerne übersehen oder kleingeredet. Es ist ein Gespräch, das nur die wenigsten führen wollen. Niemand möchte ein Rassist sein oder eigene internalisierte Rassismen hinterfragen.“ Es sei eine Auseinandersetzung, die viel Selbstreflexion erfordert und einen zwingt, Rassismus als Bestandteil eines größeren Zusammenhangs zu erkennen, in dem bestimmte Gruppen immer wieder diskriminiert und stigmatisiert werden. Eines Zusammenhangs, in dem es ein Privileg ist, nicht über Rassismus sprechen zu müssen.
Seitdem Nada den Führerschein hat, hat sie keine rassistischen Erfahrungen mehr gemacht. Ihr Auto ist ihr Privileg, das weiß sie. Viele Betroffene hätten keine andere Wahl, als die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, so wie sie es jahrelang getan hat. Manchmal holen Nada beim Tanken Bedenken ein, tief verwurzelt in ihren Erfahrungen mit Rassismus: Was, wenn etwas passiert, wenn sie jetzt aus dem Auto, ihrem schützenden Raum, steigt? Sie lässt sich von diesen Ängsten aber nicht abhalten, sie kämpft gegen sie an. Wenn sie in die Augen ihrer Tochter blickt, ihr übers dunkle Haar streicht, weiß sie: „Ich werde diese Sorgen niemals an meine Tochter weitergeben. Sie soll der Welt ohne Angst begegnen.“ Nada weigert sich, sich als Opfer zu sehen. In diese Rolle würden muslimische Frauen schon von den Medien viel zu oft gedrängt, sagt sie. Nada will kein Mitleid, sie will, dass die Leute auf antimuslimischen Rassismus aufmerksam werden. Dass sie Zivilcourage zeigen. Wie der eine junge Mann. Und dass die Täter:innen wissen, dass ihr Handeln nicht ohne Konsequenzen bleibt. Wie der Spucker. „Ein paar Tage nach dem Vorfall am Bahnhof habe ich einen Anruf von der Polizei bekommen“, erzählt Nada. Der junge Mann hatte Anzeige erstattet, mit Foto und Video. „Es muss sich endlich etwas ändern“, sagt sie. Das Melden von Fällen ist dabei ein erster wichtiger Schritt.
Erstveröffentlichung in QAMAR-Magazin: qamar-magazin.at
Illustration: Aliaa Abou Khaddour