Als die Trommeln von Krieg und Frieden um die Wette sangen
01.03.2018 -Malik rannte. Ein Gefühl, das er gut kannte durchströmte seinen Körper. Sein Herz raste, die Ohren rauschten und seine Lungen pumpten so beständig wie der alte Blasebalg von Onkel Madeep. Dennoch fühlte es sich falsch an, denn die Felsen waren tückisch und er war es nicht gewohnt auf ihnen zu laufen. Der Boden war zu uneben, man strauchelte und die ungleichmäßig aufgeschichteten Steine gaben oft nach. Das machte ihn langsam.
Nein, die Felsen waren wirklich kein guter Ort zum Laufen. Nicht so wie die Ebene rund um das Dorf. Dort konnte er ewig laufen und Malik liebte das Laufen. Manchmal rannte er einfach in die Ebene hinaus, nur um zu sehen wie lange es dauern würde bis seine Beine ihn nicht mehr trugen. Er liebte dieses Gefühl. Den ersten Widerstand, wenn der Körper sich in Bewegung setzte, das leichte Brennen in den Beinen, wenn sie ihn immer weiter trugen und schließlich das vertraute Gefühl und die Geborgenheit von Mutter Erde, die ihm mal Halt gab, wenn er den festen Boden unter seinen Füßen spürte während sein Körper dagegen immer leichter zu werden schien. Bis sie ihn schließlich wieder zurück in ihre Arme zog, indem sie seine Glieder erschöpft und schwer werden ließ. Ja, er war ein guter Läufer. Und genau das war der Grund, weshalb seine Mutter ihn losgeschickt hatte als die ersten Trommeln aus der Ferne riefen.
Bumm.
Ein Geräusch das ihm so vertraut erschien. Kurz und präzise. Ähnlich wie der einsame Klang der ersten Trommel, die den Beginn jedes Festes und jedes freudigen Beisammenseins einleitete, bevor die Stimmen ihrer Brüder und manchmal auch die der Dorfbewohner den rhythmischen Herzschlag ihres Zusammenlebens bildeten.
Bumm.
Und doch war dieses Geräusch so fremd.
Zu hart um mit den Stimmen der anderen zu singen.
Zu kurz um mit dem sanften Puls ihres Lebens zu erklingen.
Bumm.
Oh, liebe Mutter Erde, diese Trommel war so schrecklich laut. Malik konnte spüren wie sie die Luft zerriss. Er wusste, dass diese Trommeln gefährlich sind. Sadi hatte sich nach der letzten Ernte darüber lustig gemacht, dass Malik sich weigerte etwas von dem gelblichen Wasser zu stehlen, das nur die Erwachsenen an den Festtagen tranken. Deshalb musste er beweisen, dass er kein Feigling war. Er wäre nie von allein auf die Idee gekommen die Alten bei einem Treffen zu belauschen. Und es war natürlich der alte Einäugige der zuerst von den Trommeln sprach. Malik und die anderen fürchteten sich vor ihm. Die Erwachsenen sagten die Ahnen hätten sein Auge trüb werden lassen, damit er sie sehen und mit ihnen sprechen konnte. Aber die Augen des alten Mannes waren geschlossen als er von den Trommeln sprach. Und er sagte: Zuerst hört man immer nur eine.
Bumm.
Gefolgt von einem zischen, wenn ihre Zähne dich verfehlen und sie daneben beißt.
Man kann Sie zuerst nicht sehen, sie bleibt unsichtbar aber ihre Zähne sind scharf.
Und ihre Stimme kann dich töten.
Bumm.
Doch es war nicht diese Trommel, die ihn noch nach Tagen aus dem Schlaf aufschrecken ließ. Es war nicht diese Trommel, die ihn an jenem Tag sofort nach Hause renne ließ, ganz egal ob Sadi oder einer der anderen sich über ihn lustig machen würden. Nein, sie war es nicht. Was ihm solche Angst gemacht hatte waren die Anderen. Die Trommeln, die nach der ersten kommen würden. Umso näher sie kamen umso schneller und vielstimmiger wurde ihr Lied. Sie kamen niemals allein, denn das Lied, das sie sangen hieß Krieg.
Doch es war Madeep, der Malik die Trommeln vergessen ließ. Der gute alte Onkel Madeep. Natürlich hatte er gemerkt, dass Malik gelauscht hatte. Madeep wusste immer irgendwie, wenn er etwas angestellt hatte. Und wenn er es mal doch nicht wusste, reichte ein Blick in das fröhliche breite Gesicht seines Onkels und dessen aufgesetzten bösen Blick, der sein verschmitztes Lächeln nie ganz verbergen konnte, um Malik alles erzählen zu lassen. Und es war Madeep, der gesagt hatte, wenn es Trommeln gibt, die von Krieg singen, muss es auch Trommeln geben, die von Frieden singen.
Bumm.
Und es gab sie.
Hinter dem Gebirge.
Als die erste Trommel in das Herz seines Dorfes biss, wusste Malik was zu tun ist.
Bumm.
Aber er konnte seine Beine nicht mehr spüren. Seine Hände zitterten. Er war doch schon so weit gelaufen. Er konnte schon den Pass und die mit bunten Fahnen behangenen Steine sehen, die Suchenden bei schlechter Sicht den Weg über den Pass wiesen. Er hatte den Gipfel schon fast erreicht … als er fiel. Die Luft wurde plötzlich aus seinen Lungen gepresst. Das Rauschen in seinen Ohren war auf einmal so laut, dass er nicht mehr wusste von wo Vater Himmel auf Mutter Erde blickte. Das Rauschen war so laut, dass er gar nicht hörte, was der Mann ihm zurief. Er verstand nicht, warum da jemand auf ihn zulief, bis einer der Männer ihn wieder auf die Beine hievte. Er hatte sie gefunden!
Madeep hatte ihm erzählt, dass die Händler von Trommeln jenseits der Berge berichtet hatten. Sie seien schon lange auf dem Weg, um das Lied des Friedens zu bringen. Malik konnte sie sofort an ihrer seltsamen braunen Stammeskleidung und ihren Buckeln aus Stoff erkennen. Er war sich sicher, dass sie es sein mussten. Er weinte vor Glück, als er den Mann, der ihm aufgeholfen hatte, mit sich zog. Seine Stimme überschlug sich, aber er musste ihnen unbedingt erzählen was passiert war. Sie mussten ihm folgen. Auch wenn Malik nicht verstand, was der Mann zu ihm sagte, folgten sie ihm. Immer wieder sagte er ihnen, dass sie singen, dass sie ihre Trommeln bereitmachen mussten. Und das taten sie. Malik war so glücklich. All der Schmerz, all die Furcht war vergessen, als sein Dorf in Sehweite geriet, denn die Männer hatten verstanden, dass sie gleich das Lied des Friedens singen mussten. Malik lächelte, als er sah, dass die Männer jetzt ihre Trommeln festhielten, die kurz zuvor noch an ihren Buckeln aus Stoff gehangen hatten. Sie sahen so anders aus als die Trommeln, die er kannte, aber das mussten sie ja auch, oder? Schließlich sangen sie das Lied des Friedens.
Bumm.
Die erste Trommel begann.
Die Trommeln aus dem Dorf antworteten ihnen.
Und Malik … hörte auf zu lächeln.
Bumm.
Zum ersten Mal hörte Malik nun das Lied von Krieg und Frieden und ihr Gesang wurde immer lauter. Er konnte hören wie die Trommeln von Krieg und Frieden um die Wette sangen. Die Trommeln des Friedens würden die Trommeln des Krieges sicherlich vertreiben. Aber dennoch, Malik hatte aufgehört zu lächeln.
Bumm.
Er hatte sie gefunden. Er hatte es geschafft die Trommel des Friedens rechtzeitig in sein Dorf zu bringen. Aber er war nicht glücklich. Er war nicht glücklich, denn die Frage, die sich mit jedem Trommelschlag in seine Seele fraß, ließ einfach nicht zu, dass er glücklich war. Das Gefühl musste dasselbe sein wie es der Biss einer dieser Trommeln auslöste. Und sie biss ihn seit die Trommeln angefangen hatten um die Wette zu singen. Denn die Frage die Malik nicht niemals vergessen konnte lautete:
Bumm.
Warum singen Krieg und Frieden mit derselben Stimme?