Kalif im Interview

Mirza Masroor Ahmad: "Der Islam ist keine Kultur und kein politisches Konzept"

01.05.2017 - Anna Stahl

Dem spirituellen Oberhaupt der Ahmadiyya Muslim Jamaat folgen mehrere zehn Millionen Muslime in über 200 Staaten. Im April war er auf Deutschland-Besuch. Für ein Interview trafen wir ihn anlässlich einer Pressekonferenz in der Frankfurter Gemeindezentrale. Der Kalif sprach über seine persönliche Überzeugung, den Terror im Namen des Islam, die wachsende Islamfeindlichkeit und die Gefahr eines neuen Weltkrieges.

DAS MILIEU: Können Sie mir erklären, warum Sie an Gott glauben?

Kalif Mirza Masroor Ahmad: Weil ich die Existenz Gottes auf unterschiedlichen Wegen erlebt habe.

MILIEU: Zum Beispiel?

Kalif: Durch die Annahme von Gebeten. Es gab Momente, in denen ich zu Gott gebetet habe, die Zeit war sehr knapp und ich stellte die Bedingung, dass ich das Ergebnis in fünfzehn oder zwanzig Minuten bekäme. Ich betete dafür inbrünstig zu Gott und Er nahm mein Gebet an. Ich habe also persönliche Erfahrungen gemacht. Deshalb glaube ich.

Außerdem liegt es in der Natur des Menschen, zu glauben, dass es einen Gott, einen Schöpfer geben sollte. Aus diesem Grund mögen auch sie all die Dinge nicht, die durch Religionen untersagt werden. Sie mögen kein Inzest, keine Diebe oder jemanden, der die Rechte anderer beschneidet. Das gehört zu den Lehren Gottes und ist in deinem Instinkt eingebaut. Wenn es keinen Gott gibt, woher haben wir das? Es gibt für mich auch viele logische Argumente dafür, dass Gott existiert.

MILIEU: Sie bauen derzeit mehrere Moscheen in Deutschland und es gibt hier auch viele Ihrer alten Moscheen. Stehen diese offen für alle Menschen?

Kalif: Ja, natürlich. Sogar zu der Zeit des Heiligen Propheten des Islam wurde er einmal von einer Delegation von Christen besucht. Nach einiger Zeit fiel dem Propheten auf, dass einige der Anwesenden etwas beunruhigt waren und fragte sie, was sie auf dem Herzen hätten. Sie sagten zu ihm, dass es Zeit für ihr Gebet sei und sie gerne ihren Gottesdienst abhalten würden. Dafür wünschte sich die Delegation einen Ort außerhalb der Moschee zu bekommen. Sie saßen zu dem Zeitpunkt in der „Moschee des Propheten“ in Medina. Der Heilige Prophet wies sie darauf hin, dass sie für die Anbetung Gottes nicht hinausgehen bräuchten, da sie sich in einem Haus befänden, welches für den Gottesdienst errichtet wurde. Unsere Moscheen stehen nicht nur allen offen, sondern auch Vertretern anderer Religionen, die den einen Allmächtigen Gott anbeten möchten.

MILIEU: In Deutschland nehmen die Ängste vor dem Islamismus zu. Auch die Mitglieder ihrer Gemeinschaft sind mit Anfeindungen konfrontiert. Sind sie traurig oder zornig darüber?

Kalif: Tag für Tag wachsen die Ängste vor dem Islam, nicht nur in Deutschland, sondern überall in der westlichen Welt, in den nicht-muslimischen Staaten, in den Industrieländern. Es gibt diese Ängste aufgrund der Handlungen von extremistischen Gruppen im Namen des Islam. Sie geben vor, Muslime zu sein und die Lehren des Islam zu befolgen, obwohl das nicht wahr ist. Sie verzerren die tatsächlichen Lehren des Islam und sie deuten den Heiligen Koran falsch. Dass dies geschehen würde, hatte der Heiligen Prophet Muhammad vor 1400 Jahren prophezeit: Muslime würden die wahren Lehren des Islam vergessen, obwohl der Koran in seiner Originalform fortbestehen würde, würden sie dessen Wortlaut und Bedeutung nicht in die Praxis umsetzen. Dann würde ein Reformer unter den Muslimen erscheinen. Dieser würde die ursprünglichen Lehren wiederbeleben. Seine Gemeinschaft würde die wahren Lehren des Islam verbreiten. Was heute geschieht, sollte also geschehen.

Was wir Ahmadi-Muslime heute tun, tun wir gemäß dieser Prophezeiung. Denn wir glauben, dass der Begründer der Ahmadiyya Muslim Jamaat die Person ist, die laut Prophezeiungen des Propheten des Islam im 14. Jahrhundert (islamische Zeitrechnung) mit dem Titel „Messias“ und „Mahdi“ (zu dt. „der Rechtgeleitete“) erscheinen sollte. Er würde alle Muslime und alle Welt zur Einheit verhelfen und ihnen die richtigen Lehren des Islam überbringen. Diese Person sagte, dass sie mit zwei Kernaufgaben gekommen ist: Erstens, den Menschen näher an Gott den Allmächtigen zu führen und zweitens, die Menschheit auf die Erfüllung der gegenseitigen Rechte aufmerksam zu machen, um dadurch in Frieden und Freundschaft zusammenleben zu können. Auch hat er Religionskriege für beendet erklärt. Wir können sehen, dass es zwar Kriege mit weltlicher Zielsetzung gibt, aber keine Kriege, bei denen eine Religion die andere angreift. Es gibt niemanden, der den Islam als Religion angreift. Es gibt also geopolitische Kriege und keine religiösen Kriege.


Was heutzutage geschieht, musste geschehen. Wir versuchen Missverständnisse über den Islam aus den Köpfen der Menschen zu beseitigen, sowohl in Deutschland als auch in anderen Teilen der Welt. Für mich ist das nichts Neues. Ich wusste, dass dies geschehen würde. Ich weiß, dass wir dafür hart arbeiten müssen, dass die Zweifel aus den Köpfen der Menschen verschwinden. Denn der Islam ist keine Religion des Extremismus oder der Grausamkeit, sondern eine Religion des Friedens, der Liebe und der Harmonie. Diese Botschaften tragen wir in alle Teile der Welt. Ich hoffe, dass wenn Menschen die wahren Lehren des Islam durch unsere Botschaft kennenlernen werden, die Islamophobie beseitigt wird.

MILIEU: Welchen Beitrag kann Politik dazu leisten?

Kalif: Wenn ich als britischer Bürger Muslim bin, ein anderer Brite Christ, Jude, Hindu oder konfessionslos ist, sind wir alle doch Einwohner derselben Nation. Als Bürger dieses Landes sollten wir dieselben Rechte haben. Die Religionszugehörigkeit sollte dabei keine Rolle spielen. Ich und meine Mitbürger können an der nationalen Politik teilhaben. Warum sollten wir hier die Religion mit einbeziehen? Religion und Politik unterscheiden sich stark von einander. Es muss eine klare Trennung zwischen ihnen geben.

MILIEU: Moscheen werden derzeit von Extremisten als Zentren für die Rekrutierung von Terroristen missbraucht. Wie kann man diese Entwicklung eindämmen?

Kalif: Ich habe das schon in der britischen Presse und zu ausländischen Pressevertretern gesagt: es ist die Aufgabe des Staates und der Strafverfolgung, diesen Missstand zu bereinigen. Wenn also extremistische Ideologien in der Moschee und den Koranschulen verbreitet werden, Kinder der Gehirnwäsche unterzogen und Jugendliche radikalisiert werden, dann muss der Staat sie beobachten. Ich biete oft an, unsere Moscheen, unsere Predigten und unsere Veranstaltungen zu überwachen. Falls sich unsere Aktivitäten gegen den Staat richten, wir die Gesetze des Landes nicht befolgen und den Frieden im Land stören, dann sollte man uns bestrafen.

MILIEU: Sollte Ihrer Meinung Islamunterricht an deutschen Schulen stattfinden?

Kalif: Schüler, die Interesse an Religionen haben, sollten über das Christentum und den Islam unterrichtet werden. Aber über den Islam als Religion und nicht als politisches Konzept. Der Islam ist auch keine Kultur oder Bestandteil von Politik. Genauso sollte keinem Schüler, der an Politik interessiert ist, der Islam als politischer Entwurf gelehrt werden. Es muss sichergestellt werden, dass der Islam in keiner Weise als etwas Anderes dargestellt wird, als eine Religion.

MILIEU: Wie denken Sie über die Möglichkeit für Frauen, die Funktion eines Imams zu bekleiden?

Kalif: Im Islam sind Frauen für eine bestimmte Anzahl von Tagen vom Gebet befreit, wenn sie ihren Menstruationszyklus haben, sogar bis zu 40 Tage nach der Entbindung. Und solange sie schwanger sind, dürfen sie nicht fasten. Deshalb entspricht es unserer Logik: Wenn man eine Frau zum Imam ernennen würde, dann würde es wahrscheinlich neun Monate lang keinen Imam geben, dann die 40 Tage nach der Entbindung  keinen Imam geben und monatlich bis zu eine Woche lang keinen geben.

Auf der anderen Seite glaubt der Islam an eine Aufgabenteilung. Männern wurden bestimmte Aufgaben auferlegt und Frauen auch bestimmte. Das heißt aber nicht, dass der Islam Frauen benachteiligen würde. Vielmehr bringt er ihnen sogar mehr Respekt entgegen. Der Heilige Prophet Muhammad sagte, dass das Paradies unter den Füßen einer Frau liegt, nämlich der Mutter. Die Mutter sorgt sich um ihre Kinder, zieht sie gut auf, damit sie zu wertvollen Bürgern einer Gesellschaft werden.

Es wird darüber berichtet, dass es zu Zeiten des Heiligen Propheten des Islam eine Mehrheit von Frauen gab, die nicht an Kriegen teilnahm – aufgrund ihrer Natur und weil sie ein weiches Herz haben. Deshalb sagt der Islam, dass es im Falle eines Krieges die Aufgabe des Mannes ist, an diesem teilzunehmen. Wenn Männer im Krieg fallen, dann verleiht der Islam ihnen den Status eines Märtyrers. Diesbezüglich kam eine Frau zum Heiligen Propheten und sagte: Dass was Männer tun, können wir nicht tun und sie bekommen den höchsten Status von Märtyrern. In Abwesenheit unserer Männer erziehen wir unsere Kinder, sorgen für die Familie und kümmern uns um den Haushalt. Werden wir nicht denselben Status wie unsere Männer erhalten? Der Heilige Prophet sagte: Ja, natürlich wird euch der gleiche Status verliehen.

Es gibt viele gute Dinge, die der Islam den Frauen gewährt. Die Funktion eines Imams stellt nicht den höchsten Status dar. Neben dem Märtyrertum sind es die Rangstufen der Frömmigkeit. Die Rechtschaffenheit stellt den höchsten Status dar, nicht das Imamat (Rolle eines Vorbeters). Sie müssen wissen, dass das Imamat keine leichte  Sache ist. Der Heilige Prophet des Islam sagte, dass wenn jemand Imam ist und sich bei ihm während des Gebets ein schlechter Gedanken einschleicht, dann lastet auf ihn die Last der Sünde für all diejenigen, die hinter ihm beten. Niemand würde gerne die Sünden des anderen auf sich nehmen. Ich weiß, dass es mir vollkommen ausreichen würde, wenn Allah all meine Sünden von mir nehmen würde. Ich würde ungern Ihre Sünden auf mich nehmen wollen.

MILIEU: Sie bereisen viele Länder der Welt und kennen die Lebensumstände Ihrer Mitglieder. Wie beurteilen Sie die Lage, in der sich Ahmadi-Muslime in Deutschland befinden?

Kalif: Wo auch immer Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und andere wichtige Freiheitsrechte herrschen, besonders in der westlichen Welt und in den Industrieländern, genießen unsere Mitglieder diese Freiheiten. Auch wenn es hier und da Anfeindungen gibt, etwa in einigen Teilen Ostdeutschlands, wo es rechte und nationalistischen Parteien gibt — das ist ganz natürlich — das wird es immer geben. Andererseits geht es uns gut. Das Erstarken rechter Gruppen hat nicht nur etwas mit Deutschland zu tun, sondern das geschieht auch in anderen Ländern der westlichen Welt.

MILIEU: Müssen wir etwas dagegen tun?

Kalif: Zumindest sollten wir als Religionsgemeinde nichts (Aggressives) dagegen tun. Wir verbreiten die Botschaft des Friedens, der Liebe und der Harmonie. Wenn überhaupt, gehört es zur Aufgabe des Staates, dagegen vorzugehen. Der Staat sollte uns alle nötigen Rechte gewähren, die auch Nicht-Muslime bekommen. Der rechtsextreme Nationalismus richtet sich nicht nur gegen Muslime, sondern gegen alle Menschen, die aus dem Ausland in ihr Land kommen. In Deutschland kann man zwar heute aufgrund der Antisemitismus-Gesetzgebung nicht gegen Juden hetzen, doch es wird immer wieder berichtet, dass dieses Gedankengut wieder heranwächst.

MILIEU: Der Weltfrieden ist heute wieder einmal in großer Gefahr. Für wie wahrscheinlich halten Sie anlässlich der Situation in Nordkorea die Gefahr eines nuklearen Krieges?


Kalif: Für sehr hoch. Man sollte in diesem Fall nicht zu optimistisch sein und glauben, dass schon nichts passieren wird. Der Vizepräsident der Vereinigten Staaten war in Südkorea und hat die Stellungnahme abgegeben, dass die USA bereit wären, gegen jeden Angriff unter Einsatz „konventioneller oder atomarer Waffen mit einer überwältigenden und effektiven Antwort“ zurückzuschlagen. Daneben haben der Iran, Syrien und Russland sich zu einem Block zusammengeschlossen. Noch wenige Wochen zuvor glaubten einige, dass sich die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland bessern würden, weil Trump Pro-Putin sei. Aber nun sieht man, dass dies nicht der Fall ist. Übernacht hat sich das gewandelt.

Im vergangenen Monat fand unser jährliches Peace Symposium in London statt. Dort sagte ich, dass man niemals glauben soll, dass diese Blöcke und Allianzen sich nicht entwickelt würden. Wenn wir auf den Zweiten Weltkrieg zurückblicken, gab es Nationen, die entschlossen waren, nicht daran teilzunehmen, aber letztendlich hineingezogen wurden, da Allianzen und Blöcke sich fortlaufend veränderten. Wenn es also zu einem Krieg kommen sollte, dann werden sich neue Blöcke formieren. Doch dieses Mal haben sogar kleinere Staaten nukleare Waffen zur Verfügung, was uns die Hölle bereiten kann. Deshalb müssen wir noch aufmerksamer und besorgter sein.

 

Mehr Infos zum Kalifen Hazrat Mirza Masroor Ahmad

Peace Symposium 2017: "Global Conflicts & The Need for Justice"

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